Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen.
30.12.2024 – 03.01.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
2C_113/2024 * (03.12.2024) Änderung des Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 30. Oktober 2023 (Elektronische Verfahrenshandlungen); abstrakte Normenkontrolle
Die Pflicht, Behördeneingaben elektronisch zu signieren und zu übermitteln, bewirkt zwar einen Eingriff in die freie Wahl der betrieblichen Sachmittel, jedoch wird dadurch die Tätigkeit berufsmässiger Parteivertreter im Allgemeinen nur geringfügig beeinflusst. Dies insbesondere auch, da es sich beim Signieren und Versenden von Eingaben nicht um die Kernaufgabe berufsmässiger Parteivertreter handelt (E. 4.3.3). Die Verpflichtung zum elektronischen Verkehr zwischen Behörden und Parteien wird durch das öffentliche Interesse der Vereinfachung und Beschleunigung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gerechtfertigt (E. 5.7 ff.). Die Zürcher «digital only»-Pflicht ist geeignet (E. 6.3), erforderlich (E. 6.4) und verhältnismässig i.e.S. (E. 6.5), um das im öffentlichen Interesse liegende Ziel zu erreichen. Zudem ist das Obligatorium mit dem BGFA vereinbar resp. verstösst das im VRG/ZH vorgesehene Obligatorium nicht gegen den Grundsatz des Vorrangs des Bundesrechts (E. 8.5).
4A_436/2024 * (18.12.2024) Rechtsöffnung; Schuldbrief
Aufgrund der Einheit von Schuldbriefforderung und Pfandrecht kann nur für die Schuldbriefforderung Rechtsöffnung erteilt werden. In welcher Höhe dies zu geschehen hat, wird durch die Grundforderung bestimmt, sofern die Schuldnerin die Einrede des «pactum de non petendo» erhebt (E. 6.4.2). Eine privatrechtliche Schuldbriefforderung nimmt keinen öffentlich-rechtlichen Charakter an, nur weil sie eine öffentlich-rechtliche Grundforderung sichert. Die Schuldbriefforderung bleibt privatrechtlicher Natur und ist nur der provisorischen Rechtsöffnung zugänglich (E. 6.4.4).
23.12.2024 – 27.12.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
6B_262/2024 * (27.11.2024) Betrug, Urkundenfälschung (Covid-19-Kredit), ungetreue Geschäftsbesorgung mit Bereicherungsabsicht
Eine – trotz Zusicherung im Covid-19-Kreditantragsformular – nicht bestimmungsgemässe Verwendung des Kredits stellt keine Falschbeurkundung i.S.v. Art. 251 Ziff. 1 StGB dar (E. 1.9.5). Dasselbe gilt für die Zusicherung des Kreditnehmers, er sei aufgrund der Covid-19-Pandiem «wirtschaftlich erheblich beeinträchtigt» (E. 1.9.6). Wohl handelt es sich beim Covid-19-Kreditantragsformular um eine Urkunde i.S.v. Art. 110 Abs. 4 StGB, da die abgegebenen Erklärungen von rechtlicher Bedeutung sind, doch besteht in Bezug auf die inhaltliche Richtigkeit keine erhöhte Glaubwürdigkeit (E. 1.9.1; 1.9.7). Von einer betrugsrechtlich relevanten Täuschung kann nur ausgegangen werden, wenn die Behauptung klar falsch war und die um den Covid-19-Kredit ersuchende Unternehmung wirtschaftlich von der Covid-19-Pandemie offensichtlich nicht betroffen war (E. 1.10.1). Die kurzfristige Anlage von Geldern in Aktien entspricht zwar nicht dem Sinn und Zweck des Covid-19-Kredits, vermag aber keine arglistige Täuschung i.S.v. Art. 146 Abs. 1 StGB begründen (E. 1.10.5).
1C_307/2023 * (09.12.2024) Baubewilligung, Mobilfunkantenne
Das Bundesgericht bestätigte zunächst die Zuständigkeit des Bundesrats zur Neubestimmung des massgebenden Betriebszustand für adaptive Antennen (E. 5.4; Art. 38 Abs. 3 USG). Die besondere Signalcharakteristik von adaptiven Antennen rechtfertigt eine im Vergleich zu konventionellen Antennen differenzierte Betrachtungsweise (E. 6.1.3 f.). Die Anwendung des Korrekturfaktors i.S.v. Ziff. 63 Abs. 2 und 3 Anhang NISV trägt dem Vorsorgeprinzip Rechnung (E. 6.4). Das Bundesgericht bestätigte, dass das bestehende QS-System auch in der Lage ist, den bewilligungskonformen Betrieb adaptiver Antennen, die unter Berücksichtigung des Korrekturfaktors eingesetzt werden, zu überprüfen (E. 7.5).
1C_517/2024 * (13.12.2024) Rechtsverzögerung bezüglich des konsularischen Schutzes
Das Bundesgericht hielt fest, dass das erforderliche schutzwürdige Interesse gemäss Art. 48 Abs. 1 lit. c VwVG nicht mit dem Anspruch auf Gewährung von konsularischem Schutz gleichzusetzen ist, da für die Bejahung der Parteistellung ein bloss tatsächlich schutzwürdiges Interesse ausreicht (E. 3.7 f).
9C_334/2024 * (16.12.2024) Alters- und Hinterlassenenversicherung
Soweit der Rentenaufhebungsgrund von Art. 24 Abs. 2 AHVG nicht (mehr) auf Witwer anwendbar ist, kann er auch für einen geschiedenen Mann, der einem Witwer gleichgestellt ist, keine Rolle spielen. Entgegenstehende Weisungen des BSV sind gesetzeswidrig und daher nicht zu beachten (E. 4.4).
16.12.2024 – 20.12.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
Es ist zulässig, den Überschussanteil des Kindes auf ein Niveau zu begrenzen, das ihm die Beibehaltung des Lebensstandards vor der Trennung gestattet. Mit anderen Worten dürfen Kinder unverheirateter Eltern nach der Trennung der Eltern finanziell nicht bessergestellt sein als vor deren Trennung (E. 2.4.3). Für die Feststellung des Überschussanteils des minderjährigen Kindes ist auf die Verhältnisse vor der Trennung der Eltern abzustellen (E. 2.6.3). Entsprechend gelten für die Begrenzung des Überschussanteils von Kindern unverheirateter Eltern die gleichen Grundsätze wie für Kinder verheirateter Eltern.
8C_110/2024 * (25.11.2024) Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose
Ein Freizügigkeitsguthaben ist für die Vermögensschwelle nach Art. 5 Abs. 1 lit. c ÜLG i.V.m. Art. 9a ELG nicht zu berücksichtigen, solange es sich noch in einer Freizügigkeitseinrichtung befindet. Hingegen stellt eine ausbezahlte Freizügigkeitsleistung anrechenbares Vermögen dar (E. 4.3). Nach Auslegung der in Frage stehenden Norm kam das Bundesgericht zum Schluss, dass im Sinne einer unechten Rückwirkung auch Vermögen zu berücksichtigen ist, auf welches die betroffene Person vor Inkrafttreten des ÜLG am 01. Juli 2021 verzichtet hat (E. 6.6).
9C_302/2024 * (27.11.2024) Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2014 bis 2017
Das Bundesgericht hat die namentlich vom Bundesverwaltungsgericht seit Jahrzehnten vertretene Formel der «gewissen Zurückhaltung» bei der Überprüfung von Ermessenseinschätzungen bestätigt (E. 3.3.1 ff.). Diese findet zwar weder im materiellen Recht noch im Verfahrensrecht eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage (E. 3.4.2 ff). Jedoch beruht die Selbstbeschränkung auf einer praktischen Notwendigkeit und ist unter juristischen Erwägungen nicht beanstanden, solange sie nicht zu einer blossen Willkürkontrolle verkommt (E. 3.4.5).
8C_83/2024 * (27.11.2024) Unfallversicherung (Integritätsentschädigung)
Es stellte sich die Frage, ob ein Einriss in der Gebärmutterhinterwand als Muskelriss im Sinne von Art. 6 Abs. 2 lit. d UVG zu qualifizieren ist (E. 6). Der Gesetzes- und Verordnungsgeber verstand unter Muskelriss in erster Linie Verletzungen von Skelettmuskeln, die vor allem beim Sport auftraten. Zudem ist unwahrscheinlich, dass Verletzungen der Muskelwand eines Hohlorgans, die beispielsweise im Rahmen einer erschwerten Geburt bei einem ärztlichen Eingriff auftreten, den Unfällen gleichgestellt werden sollten. Hinzu kommt, dass der Begriff Muskelverletzungen insbesondere solche der Skelettmuskulatur erfasst und nicht auf Muskeln von Hohlorganen auszudehnen ist (E. 7.2.2). Entsprechend sind Risse im Muskelgewebe von Hohlorganen nicht von Art. 6 Abs. 2 lit. d UVG erfasst (E. 7.2.4).
9C_363/2024 * (28.11.2024) Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2014-2019
Eine Änderung der Rechtslage, welche die Berufung auf den Vertrauensschutz ausschliesst, ergibt sich höchstens aus einer Gesetzesänderung oder allenfalls daraus, dass sich inzwischen deren Inhalt infolge höchstrichterlichen Rechtsprechung als unzureichend erwiesen hätte. Will die ESTV bewirken, dass eine von ihr publizierte Praxisfestlegung nicht mehr gelten soll, hat sie diese gegenüber der steuerpflichtigen Person zu widerrufen. Die Tatsache, dass das Bundesgericht die 25/75-Prozent-Regel der ESTV für gesetzeswidrig erkannte, berührte die durch Auskunft der ESTV geschaffene Vertrauensgrundlage, wonach der Umfang der unternehmerischen Tätigkeit auf 40% festgelegt wurde, nicht (E. 5.3.4.2).
1C_217/2023 * (21.11.2024) Festsetzung Strassenprojekt
Das Bünisbachtobel bietet aufgrund seines Strukturreichtums und seiner fehlenden Erschliessung für Erholungssuchende besonders günstige Brutbedingungen und ist als schützenswerter Standort i.S.v. Art. 18 Abs. 1bis NHG anzusehen (E. 5.2). Die Erschliessung des Tobels mit dem geplanten Fuss- und Wanderweg würde aufgrund seiner Störwirkung einen nicht unerheblichen Eingriff in den schutzwürdigen Lebensraum darstellen (E. 6.4 f.). Das Bünisbachtobel ist das einzige Tobel der Region, das nicht durch einen Fuss- oder Wanderweg erschlossen ist und stellt ein wertvolles Rückzugsgebiet für Vögel und Wildtiere in einem von Menschen intensiv genutzten Gebiet dar. Dieses Interesse ist höher zu gewichten als dasjenige, noch ein weiteres Tobel für Erholungssuchende zugänglich zu machen (E. 7.3).
2C_283/2023 * (20.11.2024) Zusätzliche Eigenmittel gemäss Eigenmittelverordnung
Art. 45 lit. a-e ERV nennt die massgebenden Kriterien, anhand deren zu beurteilen ist, ob besondere Umstände im Einzelfall vorliegen, die zur Anordnung zusätzlicher Eigenmittel führen können (E. 4.4.1.1; E. 3.1.2). Die in Art. 45 lit. b ERV genannten «eingegangenen Risiken» sind einerseits Aufgreiftatbestand, der die FINMA dazu veranlasst zu prüfen, ob zusätzliche Eigenmittel erforderlich sind und andererseits bilden sie zugleich den Beurteilungsmassstab, anhand welchem die Prüfung der Erforderlichkeit zusätzlicher Eigenmittel durchzuführen ist (E. 4.4.1.2). Die PostFinance weist nicht nur im Vergleich zu anderen Retailbanken, sondern auch im Rahmen der institutsspezifischen Einzelfallanalyse erhöhe Zinsrisiken auf (E. 4.5.3.4).
4A_312/2024 * (05.12.2024) Quotenvorrecht, Genugtuung
Im Urteil BGE 123 III 306 liess das Bundesgericht ausdrücklich offen, ob das Quotenvorrecht auch bei Selbstverschuldenskürzungen zu beachten ist (E. 2.4). Mit vorliegendem Urteil bestätigte das Bundesgericht, dass sich Geschädigte auch bei Selbstverschulden auf das Quotenvorrecht berufen können (E. 2.7.2 ff).
09.12.2024 – 13.12.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
5A_342/2023 * (07.11.2024) Kosten der Unterbringung eines Kindes
Das Bundesgericht hatte die Frage zu beantworten, ob die Gemeinde eine Unterhaltsleistung gemäss Art. 276 Abs. 2 ZGB erbracht hat oder ob es sich bei der Leistung um einen öffentlich-rechtlichen Beitrag handelte (E. 5.1). Nach den Ausführungen des Bundesgerichts liegt eine Bundesrechtsverletzung vor, wenn von einem generellen Vorrang der bundesrechtlichen Regelung (Art. 276 Abs. 2 ZGB) vor dem kantonalen öffentlichen Recht ausgegangen wird (E. 5.2.1; E. 7.2). Entsprechend gelangen die Normen über die Ausrichtung von öffentlich-rechtlichen Beiträgen nicht erst dann zur Anwendung, wenn weder die Eltern noch das Kind i.S.v. Art. 293 ZGB in der Lage sind, die Kosten des Unterhalts zu bestreiten (E. 5.2.2).
5A_85/2024 * (08.11.2024) Bauverbotsdienstbarkeit
Das Bundesgericht hielt fest, dass für die Bestimmung des Umfangs einer Baubeschränkung vom allgemeinen Sprachgebrauch oder einem allfälligen lokalen Sondersprachgebrauch im Zeitpunkt der Eintragung der Dienstbarkeit auszugehen ist (E. 5.4). Für die Bestimmung des Begriffs «Geschoss» ist auf den optischen Eindruck der beabsichtigen Baute abzustellen. Für Abgrenzungsfragen kann hilfsweise auch auf das im Entstehungszeitpunkt gültig gewesen örtliche Baureglement abgestellt werden (E. 5.3; 5.4; Urteil des BGer 5C.240/2004).
5A_395/2024 * (08.11.2024) Löschung bzw. Ablösung einer Grunddienstbarkeit
Lässt sich aus dem Vertragswortlaut einer Dienstbarkeitsvereinbarung kein Zweck entnehmen, ist der ursprüngliche Zweck aus den damaligen Bedürfnissen herzuleiten. Dies ist zwangsläufig mit gewissen Mutmassungen verbunden (E. 4.1). Die zweckbegründenden Bedürfnisse des berechtigten Grundstückes bestehen unabhängig von der konkreten Nutzung des darauf stehenden Gebäudes. Die Identität einer Dienstbarkeit wird dadurch nicht verändert (E. 4.7). Dass das dienende Grundstück ursprünglich landwirtschaftlich genutzt wurde und heute in der Bauzone liegt, rechtfertigt für sich allein die Anwendung von Art. 736 Abs. 2 ZGB nicht (E. 5.5).
5A_435/2023 * (21.11.2024) Prozesskostenvorschuss (Ehescheidung)
Gemäss Art. 276 ZPO ist die Berufungsinstanz, bei der das Scheidungsverfahren hängig ist, zuständig für die Entscheidung über im Rechtsmittelverfahren beantragte vorsorgliche Massnahmen i.S.v. Art. 276 ZPO. Dies umfasst auch die Zuständigkeit für die Entscheidung über ein Gesuch um Prozesskostenvorschuss für das Berufungsverfahren (E. 6.2.1 ff.).
7B_958/2024 * (27.11.2024) Strafvollzug; Bewilligung der Halbgefangenschaft
Mit dem Eintritt des AHV-Rentenalters folgt nicht zwingend, dass eine Person nicht mehr in der Arbeitswelt integriert ist; es rechtfertigt sich nicht, pensionierten Personen die Gewährung der Halbgefangenschaft nach Art. 77b StGB pauschal zu verweigern (E. 2.2.5). Für die Frage, ob eine selbständige Erwerbstätigkeit als Arbeit i.S.v. Art. 77b Abs. 1 lit. b StGB oder als blosse Liebhaberei zu qualifizieren ist, kann auf die steuer- und sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung abgestellt werden (E. 2.2.4; 2.4.1).
8C_120/2024 * (26.11.2024) Invalidenversicherung (Massnahme beruflicher Art, Berufsberatung)
Das Bundesgericht bestätigte seine Rechtsprechung, wonach gerade das Schliessen schulischer Lücken nicht unter den Begriff der Berufsberatung nach Art. 15 IVG fällt (E. 8.2). Für Kosten des Aufenthalts im Rahmen von Art. 15 IVG kommen die tarifären Bestimmungen der Invalidenversicherung zum Tragen (E. 8.3.2; Art. 27 IVG i.V.m. Art. 41 Abs. 1 lit. l IVV). Es ist nicht mit Bundesrecht vereinbart, IVSE-Tarifen pauschal Vorrang vor Tarifverträgen der Invalidenversicherung oder Vereinbarung eines Preises im Einzelfall einzuräumen (E. 8.3.2).
02.12.2024 – 06.12.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
5A_376/2024 * (06.11.2024) Kostenvorschuss (Art. 230 Abs. 2 SchKG)
Die Kosten der Verwertung von Pfandgegenständen sind nicht durch die Konkursmasse zu decken, sondern von den Pfandgläubigern zu tragen. Die entsprechenden Kosten sind demnach bei der Festlegung der Höhe der Sicherheitsleistung gemäss Art. 230 Abs. 2 SchKG nicht zu berücksichtigen (E. 5.2).
6B_1272/2023 * (30.10.2024) Versuchte vorsätzliche Tötung, Landesverweisung
Die strafrechtliche Landesverweisung hat weitreichende Auswirkungen auf das durch Art. 8 EMRK und Art. 13 BV geschützte Privat- und Familienleben. Der unterschiedlichen Tragweite der Landesverweisung ist insbesondere dann Rechnung zu tragen, wenn die familiären Kontakte aufgrund besonderer Umstände nur in der Schweiz gepflegt werden können (E. 5.6.2). Die Kontaktpflege des Beschwerdeführers zu seinem schwerstbehinderten erwachsenen Sohn fällt in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV. Das Bundesgericht bejahte das Vorliegen eines persönlichen Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB (E. 5.7.1). Art. 84 Abs. 6 StGB statuiert einen Anspruch auf Urlaub in «angemessenem Umfang». Ein Härtefall kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass der Kontakt durch die Verbüssung der Freiheitsstrafe ohnehin für längere Zeit unterbrochen würde (E. 5.7.3).
25.11.2024 – 29.11.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
7B_1035/2024 * (19.11.2024): Haftentlassung Untersuchungshaft
Der Beschwerdeführer machte vorliegend geltend, die Voraussetzungen der einfachen Wiederholungsgefahr gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO nicht erfüllt zu haben (E. 2.1). Die Auslegung von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ergibt, dass die beschuldigte Person nur wegen einfacher Wiederholungsgefahr inhaftiert werden kann, wenn sie bereits zuvor wegen mindestens zwei gleichartigen Straftaten verurteilt worden ist. Die in BGE 137 IV 84 E. 3.2 etablierte Rechtsprechung lässt sich unter dem neuen Recht nicht weiterführen (E.2.11). Der besondere Haftgrund der einfachen Wiederholungsgefahr ist mit einer Vortat nicht erfüllt (E. 2.12).
18.11.2024 – 22.11.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
1C_648/2023 * (08.10.2024) Bürgerrechtsfeststellung
Das Bundesgericht hatte die Frage zu klären, welche Folgen eine Verwirkung gemäss Art. 10 Abs. 1 aBüG auf das durch Heirat erworbene Schweizer Bürgerrecht hatte (E. 4.1). Das Bundesgericht hielt fest, dass es sich sachlich nicht rechtfertigen liesse, wenn der gebürtige Schweizer mangels Meldung bzw. Beibehaltungserklärung das Schweizerbürgerrecht verliert, die gebürtige Ausländerin es hingegen behalten würde (E. 4.4.5). Dies gilt umso mehr als auch Kinder gemäss Art. 10 Abs. 2 aBüG in die Verwirkung des Schweizer Bürgerrechts ihrer Eltern miteinbezogen werden (E. 4.4.6).
9C_165/2024 * (28.10.2024) Staats- und Gemeindesteuern des Kantons St. Gallen und direkte Bundessteuer, Steuerperioden 2020 und 2021
Im vorliegenden Fall konnte der Betrieb eines Hotels mit mehreren Zimmern, nicht als dem gemeinnützigen Betrieb einer Herberge untergeordnet betrachtet werden. Dies insbesondere bereits auch deshalb, weil der Erlös des Hotelbetriebs rund die Hälfte des Gesamterlöses der Herberge ausmachte. Eine solche Erwerbstätigkeit sprengt den Rahmen für eine Steuerbefreiung (E. 8.2). Für die Frage der Wettbewerbsneutralität ist entscheidend, inwiefern die im Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit am Markt angebotenen Leistungen mit solchen von dafür steuerpflichtigen Personen konkurrieren (E. 8.3.1). Für die Beurteilung der Wettbewerbsneutralität ist nicht entscheidend, wie der Gewinn verwendet, sondern wie er erzielt wird, indem er nicht mithilfe von partiell wettbewerbsverzerrenden Vorteilen (wie einer Steuerbefreiung) zustande gekommen sein darf (E. 8.3.2).
2C_302/2023 * (11.10.2024) Verbundfahrplan 2022-2023
Anordnungen des Verkehrsrats über die Ausgestaltung der Grundversorgung und die Festlegung der übrigen Verkehrsangebote haben entgegen der Regelung von § 44 Abs. 1 lit. e VRG/ZH keinen überwiegend politischen Charakter (E. 1.1.3). Vielmehr hat die gerichtliche Kontrolle sicherzustellen, dass Anhörungs- und Mitwirkungsrechte hinreichend gewahrt werden und dass übergeordnete Grundsatzfragen geklärt werden können (E. 1.1.5). Der Ausschluss der gerichtlichen Überprüfung gemäss § 44 Abs. 1 lit. e VRG/ZH hält der bundesrechtlichen Vorgabe von Art. 86 Abs. 3 BGG nicht stand (E. 1.2).
2C_309/2023 * (11.10.2024) Verbundfahrplan 2022-2023
Anordnungen des Verkehrsrats über die Ausgestaltung der Grundversorgung und die Festlegung der übrigen Verkehrsangebote haben entgegen der Regelung von § 44 Abs. 1 lit. e VRG/ZH keinen überwiegend politischen Charakter (E. 1.1.3). Vielmehr hat die gerichtliche Kontrolle sicherzustellen, dass Anhörungs- und Mitwirkungsrechte hinreichend gewahrt werden und dass übergeordnete Grundsatzfragen geklärt werden können (E. 1.1.5). Der Ausschluss der gerichtlichen Überprüfung gemäss § 44 Abs. 1 lit. e VRG/ZH hält der bundesrechtlichen Vorgabe von Art. 86 Abs. 3 BGG nicht stand (E. 1.2).
8C_104/2024 * (22.10.2024) Invalidenversicherung (Invalidenrente)
Rechtsprechungsgemäss bewirkte Adipositas bislang keine zu Rentenleistungen berechtigende Invalidität (E. 5.1). Das Bundesgericht änderte mit vorliegendem Entscheid seine Rechtsprechung: Demnach ist nicht einzusehen und es hält vor dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht stand, weshalb Adipositas bei grundsätzlich zumutbarer Behandlung zum vornherein invalidenversicherungsrechtlich irrelevant und damit anders zu behandeln sein soll als andere (auch somatische) Erkrankungen (E. 5.9). Unverändert gilt der Grundsatz der Schadenminderungspflicht (Art. 7 IVG; E. 5.10).
2C_1016/2022 * (25.09.2024) Schadenersatz und Genugtuung
Das Bundesgericht bestätigte den Anspruch auf Genugtuung eines Direktbetroffenen gemäss Art. 6 Abs. 2 VG, da der Beschwerdeführer über mehrere Stunden Angst um das Leben und die Gesundheit seiner Ehefrau und seines ungeborenen Kindes aushalten mussten. Dass retrospektiv keine unmittelbare Lebensgefahr für die Ehefrau bestand, ändert nichts an diesem Umstand. Zudem versetzt ihn die Untätigkeit der Grenzwachtkorps in eine besondere Ohnmachtssituation, dies insbesondere auch, da sich die vulnerable Familie in Obhut des Staates befand (E. 5.6). Das Bundesgericht verneinte die Ansprüche auf Schadenersatz in Zusammenhang mit dem Asylverfahren in Italien (E. 6.3.1). Es fehle an der Widerrechtlichkeit, da weder das Zwangsanwendungsgesetz noch die Dublin-III-Verordnung eine Verhaltensnorm beinhalten, die dem Schutz der Vermögensinteressen dienen (E. 6.3.4 f.).
11.11.2024 – 15.11.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
9C_340/2024* (04.10.2024): Krankenversicherung (Krankenpflege; ambulante Behandlung)
Die OKP übernimmt die Kosten für Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG) und wenn diese wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind (Art. 32 Abs. 1 KVG; E. 3.1). Nach Art. 43 Abs. 1 ATSG kommt dem Versicherungsträger die Aufgabe zu, die notwendigen Abklärungen von Amtes vorzunehmen. Er holt dazu die zur Prüfung der Leistungsbegehren erforderlichen Auskünfte ein (E. 3.5). Das Bundesgericht bestätigt die Vorinstanz gestützt dahingehend, dass die bisherige unkoordinierte Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen durch die Beschwerdeführerin eine unwirksame und unzweckmässige Behandlungsmethodik darstelle; dies bedürfe eines Behandlungsplans durch eine federführende medizinische Institution als Gatekeeper. Dieses Vorgehen ist mit dem Grundsatz der freien Arztwahl und dem System der Pflichtleistungen vereinbar (E. 5.1).
4A_166/2024, 4A_172/2024* (17.09.2024): UWG (insb. Art. 3 Abs. 1 lit. e, unnötige Anlehnung); Agentenmarke (Art. 4 MschG)
Unlauter handelt, wer mit seinem Werbeauftritt im Ergebnis den guten Ruf von unter einem anderen Zeichen bekannten Waren auf seine eigenen überträgt, indem er Gedankenassoziationen zu diesen weckt, ohne dass es einer Verwechslungsgefahr bedarf. Insofern ist namentlich nicht die Verwendung eines Zeichens vorausgesetzt, das demjenigen des Mitbewerbers derart ähnlich ist, dass es damit in Alleinstellung verwechselbar wäre. Es genügt vielmehr, wenn ein Zeichen, das dem bekannten Drittzeichen ähnlich ist, in einer Weise verwendet wird, dass es nicht anders denn als Anlehnung an jenes gedeutet werden kann, und dies objektiv geeignet ist, bei den Adressaten eine gedankliche Verbindung zum Drittzeichen bzw. zu den damit bezeichneten Produkten zu wecken (E. 4.1). Weiter argumentiert das Bundesgericht, dass eine vergleichende Anlehnung notwendig voraussetze, dass es sich bei den Elementen, an welche sich die Konkurrenzausstattung anlehne, nicht bloss um beschreibende Elemente handle (E. 4.3). Rein beschreibende Elemente vermögen dem Vergleichsprodukt kein Image zu verschaffen, das der Verletzter auf sein Produkt transferieren könnte (E. 4.4.2). Ferner gilt, wenn ein Dritter die Marke eines besser Berechtigten hinterlegt, ohne mit diesem in einer Vertragsbeziehung zustehen, die ihn zum Gebrauch der Marke ermächtigt, muss Art. 4 MSchG mangels Ermächtigung zum Gebrauch ausscheiden (E. 10.5).
2C_69/2023* (15.10.20204): Arzneimittel und Medizinalprodukte, Änderung der Abgabekategorie
Apotheker:innen dürfen verschreibungspflichtige Arzneimittel grundsätzlich nur auf ärztliche Verschreibung hin abgeben (Art. 24 Abs. 1 lit. a HMG). Allerdings wurde mit der Revision des Heilmittelrechts eine erleichterte Abgabe durch Apothekerinnen und Apotheker eingeführt (E. 5.4.3). Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel dürfen auch von eidgenössisch diplomierten Drogist:innen abgegeben werden (Art. 25 Abs. 1 lit. b HMG; E. 5.5.2.) Notfallverhütung setzt ein systematisches Fachgespräch voraus, anlässlich welchem etwaige medizinische Probleme und Arzneimittelinteraktionen festgestellt und die Eignung eines bestimmten Notfallkontrazeptivums für die jeweilige Kundin abgeklärt werde (E. 6.1). Die “Pille danach” darf auch künftig nur in Apotheken nach einem Fachgespräch mit der Apotheker:in abgegeben werden. Der Zweck des Fachgesprächs, Risiken und Eignung für die einzelne Anwenderin individuell und sachkundig abzuklären und sie über Arzneimittelinteraktionen und unerwünschte Wirkungen aufzuklären, lässt sich nur durch ein Gespräch mit einer Apothekerin oder einem Apotheker erreichen (E. 7.7).
9C_338/2024* (9.10.2024): Berufliche Vorsorge (Altersleistungen; Freizügigkeitsleistungen; Ehescheidung)
In Berücksichtigung des Vertrauensgrundsatzes sowie der Unklarheits- und Ungewöhnlichkeitsregel ist der massgebliche Zeitpunkt für die Bestimmung des Altersguthabens die (Früh-)Pensionierung (E. 6.1, 6.5). Der Umstand, dass diese während eines hängigen Scheidungsverfahrens erfolgte, ändert nichts daran. Dies bedeutet, dass die Höhe des Altersguthabens im Zeitpunkt der vorzeitigen Pensionierung relevant ist (E. 7.1).
9C_325/2024* (24.10.2024): Berufliche Vorsorge (Verzinsung; vorinstanzliches Verfahren),
Gemäss Art. 73 Abs. 2 Teilsatz 2 BVG stellt das Berufsvorsorgegericht den Sachverhalt von Amtes wegen fest. Die beschriebene Pflicht des Berufsvorsorgegerichts, den entscheidwesentlichen Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln, entbindet die Vorsorgeeinrichtungen nicht, ihrerseits die an sie herangetragenen Leistungsansprüche – auf eigene Kosten – abzuklären (E. 6.3.). Die Kosten entsprechender gutachterlicher Abklärungen durch das Berufsvorsorgegericht sind einer Vorsorgeeinrichtung folglich zu überbinden, wenn sich deren Erhebungen als lückenhaft oder ungenügend erweisen und ein gerichtliches Gutachten die erkannten Mängel zu beheben in der Lage ist (E. 6.3.2).
04.11.2024 – 08.11.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
9C_290/2024 * (03.10.2024): Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft
Das Bundesgericht bestätigte seine Rechtsprechung (BGE 139 V 250), wonach es keinen generellen Freibetrag für eine Erwerbstätigkeit während des Bezugs von Mutterschaftsentschädigung definierte (E. 4.3). In diesem Urteil statuierte das Bundesgericht keinen generellen «Freibetrag» für eine Erwerbstätigkeit während des Bezugs von Mutterschaftsentschädigung. Es definierte, was als marginale Nebentätigkeit zu verstehen ist (E. 4.3.2). Für den Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung ist unerheblich, ob das Erwerbseinkommen während der Phase, in welcher grundsätzlich ein Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung bestand, geringer als CHF 2’300.- war (E. 4.4).
2C_248/2023 * (20.09.2024): Ablehnung der Zurverfügungstellung und Bezahlung einer persönlichen Assistenz
Art. 2 Abs. 5 lit. a i.V.m. Art. 8 Abs. 2 BehiG ist dahingehend zu interpretieren, dass das Gemeinwesen auch verpflichtet ist, aktiv auf chancengleiche Bedingungen in Bezug auf die Teilhabe an Bildung hinzuwirken. Unter bestimmten Voraussetzungen kann sich daraus ein gesetzlicher Anspruch auf Bestellung und Bezahlung einer Assistenz ableiten (E. 4.5). Zu den methodenspezifischen Kompetenzen wird die Fähigkeit gezählt, Informationen und Daten zu sammeln, um Probleme zu verstehen, sowie allgemein die Kompetenz, mit Informationen umzugehen (E. 5.4.2). Da der Beschwerdeführer unstrittig studierfähig ist, ist er im Grundsatz im Stand, administrative Arbeiten im Rahmen eines Studiums selbst wahrzunehmen. Es stellt eine wesentliche Kompetenz von Hochschulabsolventinnen und -absolventen dar, sich innerhalb eines gegebenen Studienprogramms zurechtzufinden, weshalb der Anspruch auf Bestellung und Bezahlung einer Assistenz verneint wurde (E. 5.4.4).
9C_635/2023 * (03.10.2024): Verrechnungssteuer, Steuerperiode 2015
Das Bundesgericht bestätigte seine Rechtsprechung, wonach vom engeren, rechtlichen Verständnis der Nutzungsberechtigung auszugehen ist (Urteil 2C_880/2019; E. 7.5). Entsprechend kann nur eine vertragliche oder gesetzliche Weiterleitungsverpflichtung die Nutzungsberechtigung des Empfängers an einer verrechnungssteuerbelasteten Einkunft in Frage stellen (E. 8). Für die Nutzungsberechtigung wesentlich bleibt die zweite Abhängigkeit: Zahlungspflichten des Empfängers können nur dann eine für die Nutzungsberechtigung schädliche Pflicht zur Weiterleitung einer verrechnungssteuerbelasteten Einkunft darstellen, wenn die Zahlung oder zumindest ihre Höhe davon abhängt, dass der Empfänger die verrechnungssteuerbelastete Einkunft erzielt (E. 9.4.2).
1C_63/2023 * (17.10.2024): Änderung des Gesetzes über die Luzerner Polizei (PolG) vom 27. Januar 1998
Das Bundesgericht hob § 4 quinquies PolG/LU vollständig auf, da der Schwerpunkt des Einsatzes der AFV bei der Strafverfolgung liegt, wobei dies einer Grundlage in der StPO bedarf (E. 3.5). Selbst wenn der Zweck der Strafverfolgung aus § 4 quinquies PolG/LU gestrichen würde, verbleibt eine sehr weitreichende Datenerfassung, -auswertung und -aufbewahrung – welche u.a. «Profiling» ermöglicht (E. 3.6.2) – und insgesamt als unverhältnismässig erscheint (E. 3.6 ff.). Biometrische Fernidentifizierungssysteme werden als «hochriskant» qualifiziert. Dies bedarf einer ausdrücklichen Grundlage im formellen Gesetz (E. 4.5.4). § 4 sexies PolG/LU enthält keine explizite Regelung zu den Voraussetzungen des Einsatzes der automatisierten Gesichtserkennungstechnologie, weshalb diese mangels hinreichender Bestimmtheit keine gesetzliche Grundlage für einen schweren Grundrechtseingriff darstellen kann (E. 4.5.5). Hingegen kann die Norm verfassungs- und konventionskonform ausgelegt werden, wobei «einfache» Analysesysteme, d.h. Systeme, bei welchen die Daten durch geschulte Personen manuell eingegeben werden, angewendet werden können (E. 4.6 ff.).
6B_385/2024, 6B_390/2024 * (30.09.2024): Qualifizierter Raub, Hausfriedensbruch; Beweisverwertbarkeit; Willkür; Landesverweisung; Entschädigung der amtlichen Verteidigung
Aufgrund der Ausgangslage, dass es der Strafbehörden bei der privaten Beweisbeschaffung an der tatsächlichen Eingriffsmöglichkeit fehlt, ist bei der Hypothese der rechtmässigen staatlichen Erlangbarkeit illegaler privater Beweismittel ein rein abstrakter Beurteilungsmassstab anzuwenden (E. 2.6.2.2 f.). Demnach ist stets zu prüfen, ob der private Beweis im zu beurteilenden Fall aufgrund der abstrakten Gesetzeslage hätte beschafft werden können (E. 2.6.2.4). Nicht massgebend ist, ob im Zeitpunkt der Erlangung der Beweis ein Tatverdacht bestanden hat (E. 2.6.3). Damit bestätigt das Bundesgericht seine Rechtsprechung hinsichtlich Verwertbarkeit von privaten Beweisen im Strafverfahren.
9C_39/2024 * (23.10.2024): Berufliche Vorsorge
Hinsichtlich des flexiblen Altersrücktritts resp. des Vorruhestands bestand zufolge Kongruenz in räumlicher, zeitlicher, persönlicher, betrieblicher und sachlicher Hinsicht eine echte GAV-Konkurrenz. Zu prüfen war, ob die allgemeinverbindlich erklärten Bestimmungen des GAV VRM Maler – Gipser als vorrangig gegenüber jenen des GAV FAR betrachtet werden durften (E. 4.2). Die durch die Sozialpartner für den Fall einer Konkurrenz zwischen zwei GAV gültig vereinbarten Kollisionsregeln sind auch dann zu berücksichtigen, wenn die konkurrierenden GAV im Rahmen von Allgemeinverbindlicherklärung grundsätzlich gleichermassen anwendbar sind. In einer solchen Konstellation bleibt kein Raum für eine Auflösung der GAV-Konkurrenz nach dem Spezi
28.10.2024 – 01.11.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
2C_150/2024* (25.09.2024): Familiennachzug
Ist eine frühere Aufenthaltsbewilligung widerrufen oder nicht verlängert worden, kann zwar grundsätzlich jederzeit um eine neue Bewilligung nachgesucht werden. (E.3.1) Massgebend ist, ob sich die Umstände seit dem Widerruf oder der Nichtverlängerung derart geändert haben, dass nunmehr ein Bewilligungsanspruch besteht (E 3.2). Vorliegend erscheint eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Palästina als höchst problematisch, da sich die politische Lage im Nahen Osten seit dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 und der militärischen Intervention Israels im Gazastreifen notorisch derart verändert, dass umso mehr abzuklären gewesen wäre, ob die israelischen Behörden den Beschwerdeführer überhaupt (wieder) ins Land lassen würden (E. 4.3.3). Die Migrationsbehörden müssen vor Vornahme der Interessenabwägung und unabhängig von der Problematik des allfälligen Bestehens von den Wegweisungsvollzug hindernden Umständen untersuchen, ob die Person (nach wie vor) einen Anspruch auf Aufenthalt im Ausreiseland hat, was die Vorinstanz vorliegend unterlassen hat (E. 4.3.5).
8C_415/2023* (03.10.2024): Unfallversicherung (Integritätsentschädigung)
Vorliegend war streitig, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem Beschwerdegegner eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 100 % zusprach statt der von der Beschwerdeführerin auf 80 % festgesetzten. Umstritten ist die Bemessung beim Zusammenfallen mehrerer Integritätsschäden (E. 2). Integritätseinbusse sind für jeden Verlust einzeln zu bestimmen. Führen ein oder mehrere versicherte Ereignisse zu verschiedenen Integritätsschäden, sind die den einzelnen Schädigungen entsprechenden Prozentzahlen zusammenzuzählen, sofern die Beeinträchtigungen medizinisch eindeutig feststehen und sich in ihren Auswirkungen klar voneinander unterscheiden lassen (E. 3). Beim vorliegenden Verlust beider Beine oberhalb des Knies handelt es sich um eine Zuordnung zu den in Anhang 3 zur UVV geregelten schwersten Schädigungen (E. 5.2).
1C_668/2023* (22.08.2024): Öffentliches Personalrecht (Besoldung, Einreihung)
Gegen die Einstufung 50 auf 60 % und Einreihung in der Lohnklasse 25 Leistungsstufe 5 eines Bezirksrichters wurde Rekurs erhoben. Das Bundesgericht bringt vor, soweit die Gerichte im Rahmen der Justizverwaltung tätig werden, verfolgen sie grundsätzlich eigene (Justiz-) Verwaltungsinteressen und entscheiden in diesen Angelegenheiten funktional als Verwaltungsbehörde in eigener Sache, weshalb sie diesbezüglich nicht über die erforderliche richterliche Unabhängigkeit im Sinne von Art. 30 Abs. 1 BV verfügen (E. 2.1.2.). Es fehlt vorliegend die Weiterzugsmöglichkeit an eine unabhängige gerichtliche Instanz im Sinne von Art. 29a und Art. 30 Abs. 1 BV. Weil die Vorinstanz nach dem Dargelegten keine solche Instanz darstellt, fehlt es an der Sachurteilsvoraussetzung von Art. 86 Abs. 1 lit. d in Verbindung mit Art. 86 Abs. 2 BGG (E. 2.4).
8C_795/2023* (10.10.2024): Ergänzungsleistung zur AHV/IV
Die vom Bundesrat im Rahmen delegierter Rechtsetzungsbefugnis vorgenommene “Definition des Heimes” (Art. 9 Abs. 5 lit. h ELG) ist bundesrechtskonform und erstreckt sich auf das gesamte ELG. Die in Art. 25a Abs. 1 ELV vorgenommene Beschränkung des EL-rechtlichen Heimbegriffs auf Einrichtungen, die entweder von einem Kanton als Heim anerkannt sind oder über eine kantonale Betriebsbewilligung verfügen, gilt grundsätzlich überall dort, wo das ELG von Heim spricht (E. 5.1). Sodann war strittig, ob der bei der EL-Berechnung anrechenbare Mietzins nach den Verhältnissen eines Einpersonenhaushalts (im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 ELG) oder einer Einzelperson in einer Wohngemeinschaft nach Art. 10 Abs. 1 ter ELG zu bestimmen ist. Das Bundesgericht entschied, dass bei einer Wohngemeinschaft nicht von einem Einzelpersonenhaushalt auszugehen ist bzw. nicht von «alleinlebend» die Rede sein kann i.S.v. Art. 10 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 ELG (6.2.4).
7B_727/2024* (11.10.2024): Öffentlichkeit der Berufungsverhandlung (Ausschluss)
Eine Verhandlung vor Jugendgericht oder vor der Berufungsinstanz kann ausnahmsweise öffentlich sein, namentlich wenn sie wegen des öffentlichen Interesses als notwendig erachtet wird (Art. 14 Abs. 2 lit. a JStPO). Letzteres ist etwa dann der Fall, wenn die Straftat des Jugendlichen in der Öffentlichkeit grosses Aufsehen erregt und die Öffentlichkeit stark bewegt hat. Je nach Interessenlage kann auch eine Teilöffentlichkeit zugelassen werden, eingeschränkt etwa auf akkreditierte Medienschaffende oder auf einen von der oder dem jugendlichen Beschuldigten vorgeschlagenen Personenkreis (E. 2.3.1). Die Vorinstanz verletzt das Bundesrecht nicht, wenn sie den akkreditierten Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstattern den Zutritt zur Berufungsverhandlung teilweise gewährt. Es war vertretbar, wenn die Vorinstanz (auch) für das Berufungsverfahren ein öffentliches Interesse annimmt, welches eine (medien-) öffentliche Hauptverhandlung im Sinne von Art. 14 Abs. 2 lit. a JStPO grundsätzlich gebietet, da es sich vorliegend um Gewalt- und Sexualdelikte zum Nachteil der zu den Tatzeitpunkten 12- bis 14-jährigen Geschädigten handelte (E. 2.4).
21.10.2024 – 25.10.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
6B_460/2024, 6B_508/2024 * (13.09.2024) Freiheitsberaubung; Strafzumessung; ambulante Massnahme; Willkür, Vergewaltigung; Landesverweisung; Beweiswürdigung.
Wird eine Verhandlung i.S.v. Art. 342 Abs. 1 StPO in zwei geteilt, gilt die zweite Verfahrensphase als zweiter Verfahrensteil der Hauptverhandlung (E. 3.4). Eine Änderung des Spruchkörpers ist in engen Grenzen zulässig, jedoch sollen Verhandlung, Beratung und Abstimmung in der gleichen gesetzmässigen Besetzung durchgeführt werden. Von der Besetzung während der Hauptverhandlung kann auch nicht aus zwingenden oder anderen sachlichen Gründen abgewichen werden (E. 3.5). Die Pflicht zur aktiven Erhebung einer formellen Rüge gegen den angekündigten Wechsel in der Besetzung widerspricht der gesetzlich geregelten Möglichkeit des Verzichts gem. Art. 335 Abs. 2 StPO (E. 3.7).
9C_125/2022 * (10.09.2024) Krankenversicherung
Das Bundesgericht hatte die Frage zu beantworten, ob die Betreiberin eines Spitals, das ambulante bildgebende Diagnostik anbietet und zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung verrechnet, im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle verpflichtet werden darf, medizinische Unterlagen an die Vertreterin der klagenden Krankenversicherer herauszugeben (E. 2.1). Der Tarifsuisse AG wird die Wirtschaftlichkeitskontrolle gestützt auf Art. 6 Abs. 1 KVAG delegiert, wobei sie wie ein Krankenversicherer berechtigt ist, einschlägige Auskünfte entgegenzunehmen. Die Schweigepflicht nach Art. 33 ATSG greift ihr gegenüber nicht (E. 4.1.3 f.). Im konkreten Fall handelt es sich einzig um die medizinische Einordnung anonymer Daten, weshalb es sich nicht zwingend um einen vertrauensärztlichen Dienst gem. Art. 57 Abs. 1 KVG handeln muss (E. 4.2.4). Ein Editionsbegehren (in casu: Herausgabe von 55 Rechnungen) deckt sich nur dann mit den Informationspflichten im Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeitskontrolle, wenn es in einem solchen Verfahren auch verwertbar ist (E. 5.8). Die Verpflichtung zur Herausgabe der betreffenden Unterlagen ist gesetzeskonform und verhältnismässig, um die Zweckmässig- und Wirtschaftlichkeit der dokumentierten CT-Aufnahmen exemplarisch zu erörtern (E. 5.7.7).
1C_28/2024, 1C_32/2024, 1C_33/2024, 1C_34/2024 * (08.10.2024) Kundgebungsbewilligung
Wird eine Kundgebung, mit welcher auf Kritik am WEF aufmerksam gemacht wird, von einer publikumsreichen Strassen auf publikumsärmere Strassen und Wege verschoben, wird die Appellfunktion beeinträchtigt und in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingegriffen (E. 4.3). Das potenzielle Fehlverhalten einzelner Kundgebungsteilnehmenden in der Vergangenheit darf nicht dazu führen, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit von friedlichen und unter Einhaltung von behördlichen Anordnungen Demonstrierenden präventiv eingeschränkt wird (E. 7.3.5). Stünde das Interesse des öffentlichen bzw. privaten Verkehrs dem gesteigerten Gemeingebrauch generell entgegen, würde das Leistungselement der Meinungs- und Versammlungsfreiheit unterlaufen, da Kundgebungen auf publikums- und verkehrsreichen Flächen kaum je bewilligt werden könnten (E. 7.3.8). Bewilligungsverfahren betreffend Kundgebungen im öffentlich Raum müssen vor dem in Aussicht genommenen Termin abgeschlossen werden (E. 10.4.1). Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Kundgebungsdatums wären die Erstinstanzen gehalten gewesen, das Verfahren zügig zum Abschluss zu bringen, wodurch dies dem Beschwerdeführer einerseits die Organisation erleichtert und die Rechtsschutzmöglichkeiten verbessert hätte (E. 10.4.2).
7B_313/2024 * (24.09.2024) Entsiegelung
Nach revidiertem Entsiegelungsrecht kommen nur noch die in Art. 264 StPO geregelten Geheimnisschutzgründe in Frage (E. 2.4.1). Die in Art. 264 StPO nicht genannten Geheimnisinteressen sind nicht im Entsiegelungsverfahren vorzubringen. Vielmehr hat die Verfahrensleitung – auf Antrag von Betroffenen– zu prüfen, ob sich eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts der Parteien zur Wahrung solcher privater Geheimhaltungsinteressen als erforderlich erweisen könnte (E. 2.4.3). Sofern keine der Durchsuchung unterliegenden Beweismittel erhoben wurden oder von Betroffenen keine gesetzlichen Geheimnisschutzgründe angerufen werden, ist die allgemeine Rechtsmässigkeit von Zwangsmassnahmen gem. Art. 197 StPO im Rahmen des Entsiegelungsverfahrens nicht akzessorisch mit zu prüfen (E. 4.3 f.).
07.10.2024 – 11.10.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
9C_47/2024, 9C_48/2024 * (23.09.2024) Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Basel-Stadt, Steuerperiode 2017, Direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2017
Grundsätzlich abzugsfähige Aufwendungen des in der Schweiz unbeschränkt steuerpflichtigen Ehegatten dürfen nicht aufgrund von Einkünften des anderen, im Ausland ansässigen Ehegatten nicht zum Abzug zugelassen werden (E. 6.2 ff.). Dadurch würde eine Faktorenaddition auf der Ebene der Bemessungsgrundlage erfolgen, für die keine gesetzliche Grundlage besteht, wenn die Ehegatten in unterschiedlichen Ländern ansässig sind (E. 6.4). Dasselbe gilt für die Kantonssteuern (E. 8).
9C_459/2023 * (31.07.2024) Mehrwertsteuer, Steuerperiode 2018 bis 2020
Vorliegend kam das Bundesgericht nach Auslegung der Norm zum Schluss, dass Vermittlungsleistungen im Zusammenhang mit der Ausgabe von (neuen) Geschäftsanteilen unter Art. 21 Abs. 2 Ziff. 19 lit. e MWSTG fallen und damit von der Mehrwertsteuer ausgenommen sind (E. 4.8). Dies rechtfertigt sich auch insofern, als dass die Auslegung des Unionsrechts dafürspricht (E. 4.5.3) und das Grundgeschäft im Sinne des Wertpapierumsatzes als Nicht-Entgelt nicht besteuert wird und es keine Rechtfertigung gibt, die Vermittlungsleistung steuerlich unterschiedlich zu behandeln (E. 4.7).
9C_596/2023 * (30.08.2024) Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft
Die Mutterschaftsentschädigung gemäss Art. 16g Abs. 1 lit. f EOG schliesst den Bezug der Betreuungsentschädigung nach Art. 16n-16s EOG für dasselbe Kind aus. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Auszahlung der Mutterschaftsentschädigung den Taggeldbezug beider Eltern ausschliesst (E. 5.1). Die Prioritätenregel von Art. 16g Abs. 1 lit. f EOG gilt auch für den Anspruch auf Betreuungsurlaub gemäss Art. 329i Abs. 1 OR (E. 5.2.3).
30.09.2024 – 04.10.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
2C_871/2022* (28.08.2024): Radio SRF 1, Stellungnahme des Bundesrats vom 25. April 2022 zur eidgenössischen Volksabstimmung bezüglich der Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache
Vorliegend war umstritten, ob die SRG mit der Ausstrahlung der Bundesratsansprache hinsichtlich der Frontex-Vorlage auf Radio SRF 1 das Vielfaltsgebot von Art. 4 Abs. 4 RTVG verletzt hat (E. 3). Bundesrätliche Abstimmungserläuterungen sind nicht direkt anfechtbar. Die Unanfechtbarkeit der Erläuterungen gilt im Grundsatz auch für Äusserungen einzelner Bundesräte, soweit sie im Vorfeld von Volksabstimmungen in der politischen Diskussion im Wesentlichen deren Inhalt wiedergeben (E 4.1). Das Vielfaltsgebot gilt aus staatspolitischen Gründen im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen strenger (E. 5.4). Es rechtfertigt sich jedoch nicht, das Vielfaltsgebot auf die Bundesratsansprachen ebenso streng wie auf andere abstimmungsrelevante Sendungen anzuwenden (E. 6.3.1).
1C_223/2023* (22.05.2024): Erwahrung der Ergebnisse der Erneuerungswahl der Mitglieder des Kantonsrates
Der Erwahrungsbeschluss des Bundesrats stellt die Gültigkeit des Ergebnisses einer Abstimmung fest, während das Bundesgericht deren Regularität, das heisst die Übereinstimmung mit der Garantie der freien und unverfälschten Willensbildung und Willensbetätigung der Stimmberechtigten gemäss Art. 34 Abs. 2 BV prüft. Es handelt sich beim Erwahrungsbeschluss nicht um einen politischen Entscheid, dessen Überprüfung durch das Bundesgericht in Konflikt zur Gewaltenteilung geraten könnte (E. 4.2). Seit BGE 135 I 19 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu den Anforderungen von Art. 34 BV an die Proporzwahlverfahren kantonaler Parlamentswahlen stark weiterentwickelt. Es hat dabei namentlich an die Erfolgswertgleichheit, der es einen wahlkreisübergreifenden Charakter zuschreibt und die sich auf die Verteilung der Sitze zwischen den verschiedenen Listen bezieht, einen strengen Massstab angelegt. Die ohnehin grosse Bedeutung von Listen im Proporzwahlverfahren wurde dadurch noch verstärkt. Viele Kantone haben ihre Parlamentswahlsysteme entsprechend angepasst (E. 8.3).
6B_1377/2023* (04.09.2024): Strafverfahren; Urteilskompetenz des Einzelgerichts
Die Urteilskompetenz des Einzelgerichts i.S.v. Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO richtet sich zunächst nach dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft. Im weiteren Verlauf des Verfahrens aber danach, welche Strafe und/oder Massnahme für das Einzelgericht konkret in Frage kommt (E. 2.4.3). Die Urteilskompetenz des Einzelgerichts (Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO) hinsichtlich der Obergrenze von zwei Jahren ist restriktiv anzuwenden. Die Grenze von zwei Jahren ist streng zu handhaben. Sie darf unter keinen Umständen überschritten werden (E. 2.5.1). Bei der Umsetzung der “Ausschaffungsinitiative” hat der Gesetzgeber darauf verzichtet Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO entsprechend zu ergänzen. Dies bedeutet aber nicht, dass es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, dass auch ein Einzelgericht eine Landesverweisung aussprechen kann (E.2.7).
23.09.2024 – 27.09.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
4A_145/2024 * (11.09.2024) Urheberrecht; finanzielle Wiedergutmachung
Ein Abmahnschreiben betreffend die Verletzung eines Urheberrechts vermag den guten Glauben nicht zerstören. Solange der Verletzter des Urheberrechts eine vertretbare Rechtsposition einnimmt, liegt keine Bösgläubigkeit vor (E. 2.3 f.). Bei Verletzung von Urheberrechten hängt das Verschulden davon ab, ob der Verletzter den Bestand des vorbestehenden Schutzrechts sowie dessen Schutzumfang kannte bzw. hätte kennen müssen (E. 3). Der Anspruch des in absoluten Rechten Verletzten auf Herausgabe des Gewinns beruht bei Gutgläubigkeit auf den Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung und nur im Falle der Bösgläubigkeit auf Geschäftsanmassung (E. 4.1). Die im Rahmen eines Vergleichs geschlossenen Vereinbarungen sind nicht geeignet, eine hypothetische Lizenzgebühr festzusetzen (E. 4.4).
5A_245/2024 * (29.08.2024) Nichtbekanntgabe einer Betreibung an Dritte
Das Bundesgericht hielt fest, dass hinsichtlich des Zeitpunkts einer «betriebenen Forderung» gemäss Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG auf das Datum der Zustellung des Zahlungsbefehls abzustellen ist (E. 4.4.2). Macht der Schuldner ein entsprechendes Gesuch geltend mit der Begründung, die Forderung sei bereits vor Einleitung der Betreibung bezahlt worden, hat er die Zahlung zu belegen (E. 4.5.1).
9C_673/2023 * (19.08.2024) Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Bern und direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2006-2012
Die Steuerrekurskommission darf als Steuerjustizbehörde nicht über Steuerjahre urteilen, die ihr weder haupt- noch vorfrageweise zur Beurteilung unterbreitet werden. Eine solche Kompetenzüberschreitung zieht Nichtigkeit des Entscheids dieser Steuerperioden nach sich (E. 5.2). Eine Ermessensveranlagungsverfügung ist nichtig, wenn zur qualifizierten inhaltlichen Unrichtigkeit eine gravierende verfahrensrechtliche Verfehlung der Veranlagungsbehörde hinzutritt (E. 6.9.1). Dies ist der Fall, wenn die Veranlagungsbehörde die Ermessensveranlagung dazu missbraucht, die steuerpflichtige Person zu bestrafen, dass sie keine Steuererklärung eingereicht oder sonst im Veranlagungsverfahren ungenügend mitgewirkt hat (E. 6.9.2). Dies entspräche dem klaren Wortlaut, der Gesetzessystemakt sowie der ständigen Rechtsprechung, stünde im groben Widerspruch zur gesetzlichen Ordnung und entspräche nicht mehr grund- und menschenrechtlichen Prinzipien (E. 6.9.2).