Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen.
21.10.2024 – 25.10.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
6B_460/2024, 6B_508/2024 * (13.09.2024) Freiheitsberaubung; Strafzumessung; ambulante Massnahme; Willkür, Vergewaltigung; Landesverweisung; Beweiswürdigung.
Wird eine Verhandlung i.S.v. Art. 342 Abs. 1 StPO in zwei geteilt, gilt die zweite Verfahrensphase als zweiter Verfahrensteil der Hauptverhandlung (E. 3.4). Eine Änderung des Spruchkörpers ist in engen Grenzen zulässig, jedoch sollen Verhandlung, Beratung und Abstimmung in der gleichen gesetzmässigen Besetzung durchgeführt werden. Von der Besetzung während der Hauptverhandlung kann auch nicht aus zwingenden oder anderen sachlichen Gründen abgewichen werden (E. 3.5). Die Pflicht zur aktiven Erhebung einer formellen Rüge gegen den angekündigten Wechsel in der Besetzung widerspricht der gesetzlich geregelten Möglichkeit des Verzichts gem. Art. 335 Abs. 2 StPO (E. 3.7).
9C_125/2022 * (10.09.2024) Krankenversicherung
Das Bundesgericht hatte die Frage zu beantworten, ob die Betreiberin eines Spitals, das ambulante bildgebende Diagnostik anbietet und zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung verrechnet, im Rahmen der Wirtschaftlichkeitskontrolle verpflichtet werden darf, medizinische Unterlagen an die Vertreterin der klagenden Krankenversicherer herauszugeben (E. 2.1). Der Tarifsuisse AG wird die Wirtschaftlichkeitskontrolle gestützt auf Art. 6 Abs. 1 KVAG delegiert, wobei sie wie ein Krankenversicherer berechtigt ist, einschlägige Auskünfte entgegenzunehmen. Die Schweigepflicht nach Art. 33 ATSG greift ihr gegenüber nicht (E. 4.1.3 f.). Im konkreten Fall handelt es sich einzig um die medizinische Einordnung anonymer Daten, weshalb es sich nicht zwingend um einen vertrauensärztlichen Dienst gem. Art. 57 Abs. 1 KVG handeln muss (E. 4.2.4). Ein Editionsbegehren (in casu: Herausgabe von 55 Rechnungen) deckt sich nur dann mit den Informationspflichten im Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeitskontrolle, wenn es in einem solchen Verfahren auch verwertbar ist (E. 5.8). Die Verpflichtung zur Herausgabe der betreffenden Unterlagen ist gesetzeskonform und verhältnismässig, um die Zweckmässig- und Wirtschaftlichkeit der dokumentierten CT-Aufnahmen exemplarisch zu erörtern (E. 5.7.7).
1C_28/2024, 1C_32/2024, 1C_33/2024, 1C_34/2024 * (08.10.2024) Kundgebungsbewilligung
Wird eine Kundgebung, mit welcher auf Kritik am WEF aufmerksam gemacht wird, von einer publikumsreichen Strassen auf publikumsärmere Strassen und Wege verschoben, wird die Appellfunktion beeinträchtigt und in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingegriffen (E. 4.3). Das potenzielle Fehlverhalten einzelner Kundgebungsteilnehmenden in der Vergangenheit darf nicht dazu führen, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit von friedlichen und unter Einhaltung von behördlichen Anordnungen Demonstrierenden präventiv eingeschränkt wird (E. 7.3.5). Stünde das Interesse des öffentlichen bzw. privaten Verkehrs dem gesteigerten Gemeingebrauch generell entgegen, würde das Leistungselement der Meinungs- und Versammlungsfreiheit unterlaufen, da Kundgebungen auf publikums- und verkehrsreichen Flächen kaum je bewilligt werden könnten (E. 7.3.8). Bewilligungsverfahren betreffend Kundgebungen im öffentlich Raum müssen vor dem in Aussicht genommenen Termin abgeschlossen werden (E. 10.4.1). Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Kundgebungsdatums wären die Erstinstanzen gehalten gewesen, das Verfahren zügig zum Abschluss zu bringen, wodurch dies dem Beschwerdeführer einerseits die Organisation erleichtert und die Rechtsschutzmöglichkeiten verbessert hätte (E. 10.4.2).
7B_313/2024 * (24.09.2024) Entsiegelung
Nach revidiertem Entsiegelungsrecht kommen nur noch die in Art. 264 StPO geregelten Geheimnisschutzgründe in Frage (E. 2.4.1). Die in Art. 264 StPO nicht genannten Geheimnisinteressen sind nicht im Entsiegelungsverfahren vorzubringen. Vielmehr hat die Verfahrensleitung – auf Antrag von Betroffenen– zu prüfen, ob sich eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts der Parteien zur Wahrung solcher privater Geheimhaltungsinteressen als erforderlich erweisen könnte (E. 2.4.3). Sofern keine der Durchsuchung unterliegenden Beweismittel erhoben wurden oder von Betroffenen keine gesetzlichen Geheimnisschutzgründe angerufen werden, ist die allgemeine Rechtsmässigkeit von Zwangsmassnahmen gem. Art. 197 StPO im Rahmen des Entsiegelungsverfahrens nicht akzessorisch mit zu prüfen (E. 4.3 f.).
07.10.2024 – 11.10.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
9C_47/2024, 9C_48/2024 * (23.09.2024) Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Basel-Stadt, Steuerperiode 2017, Direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2017
Grundsätzlich abzugsfähige Aufwendungen des in der Schweiz unbeschränkt steuerpflichtigen Ehegatten dürfen nicht aufgrund von Einkünften des anderen, im Ausland ansässigen Ehegatten nicht zum Abzug zugelassen werden (E. 6.2 ff.). Dadurch würde eine Faktorenaddition auf der Ebene der Bemessungsgrundlage erfolgen, für die keine gesetzliche Grundlage besteht, wenn die Ehegatten in unterschiedlichen Ländern ansässig sind (E. 6.4). Dasselbe gilt für die Kantonssteuern (E. 8).
9C_459/2023 * (31.07.2024) Mehrwertsteuer, Steuerperiode 2018 bis 2020
Vorliegend kam das Bundesgericht nach Auslegung der Norm zum Schluss, dass Vermittlungsleistungen im Zusammenhang mit der Ausgabe von (neuen) Geschäftsanteilen unter Art. 21 Abs. 2 Ziff. 19 lit. e MWSTG fallen und damit von der Mehrwertsteuer ausgenommen sind (E. 4.8). Dies rechtfertigt sich auch insofern, als dass die Auslegung des Unionsrechts dafürspricht (E. 4.5.3) und das Grundgeschäft im Sinne des Wertpapierumsatzes als Nicht-Entgelt nicht besteuert wird und es keine Rechtfertigung gibt, die Vermittlungsleistung steuerlich unterschiedlich zu behandeln (E. 4.7).
9C_596/2023 * (30.08.2024) Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft
Die Mutterschaftsentschädigung gemäss Art. 16g Abs. 1 lit. f EOG schliesst den Bezug der Betreuungsentschädigung nach Art. 16n-16s EOG für dasselbe Kind aus. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Auszahlung der Mutterschaftsentschädigung den Taggeldbezug beider Eltern ausschliesst (E. 5.1). Die Prioritätenregel von Art. 16g Abs. 1 lit. f EOG gilt auch für den Anspruch auf Betreuungsurlaub gemäss Art. 329i Abs. 1 OR (E. 5.2.3).
30.09.2024 – 04.10.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
2C_871/2022* (28.08.2024): Radio SRF 1, Stellungnahme des Bundesrats vom 25. April 2022 zur eidgenössischen Volksabstimmung bezüglich der Übernahme der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache
Vorliegend war umstritten, ob die SRG mit der Ausstrahlung der Bundesratsansprache hinsichtlich der Frontex-Vorlage auf Radio SRF 1 das Vielfaltsgebot von Art. 4 Abs. 4 RTVG verletzt hat (E. 3). Bundesrätliche Abstimmungserläuterungen sind nicht direkt anfechtbar. Die Unanfechtbarkeit der Erläuterungen gilt im Grundsatz auch für Äusserungen einzelner Bundesräte, soweit sie im Vorfeld von Volksabstimmungen in der politischen Diskussion im Wesentlichen deren Inhalt wiedergeben (E 4.1). Das Vielfaltsgebot gilt aus staatspolitischen Gründen im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen strenger (E. 5.4). Es rechtfertigt sich jedoch nicht, das Vielfaltsgebot auf die Bundesratsansprachen ebenso streng wie auf andere abstimmungsrelevante Sendungen anzuwenden (E. 6.3.1).
1C_223/2023* (22.05.2024): Erwahrung der Ergebnisse der Erneuerungswahl der Mitglieder des Kantonsrates
Der Erwahrungsbeschluss des Bundesrats stellt die Gültigkeit des Ergebnisses einer Abstimmung fest, während das Bundesgericht deren Regularität, das heisst die Übereinstimmung mit der Garantie der freien und unverfälschten Willensbildung und Willensbetätigung der Stimmberechtigten gemäss Art. 34 Abs. 2 BV prüft. Es handelt sich beim Erwahrungsbeschluss nicht um einen politischen Entscheid, dessen Überprüfung durch das Bundesgericht in Konflikt zur Gewaltenteilung geraten könnte (E. 4.2). Seit BGE 135 I 19 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu den Anforderungen von Art. 34 BV an die Proporzwahlverfahren kantonaler Parlamentswahlen stark weiterentwickelt. Es hat dabei namentlich an die Erfolgswertgleichheit, der es einen wahlkreisübergreifenden Charakter zuschreibt und die sich auf die Verteilung der Sitze zwischen den verschiedenen Listen bezieht, einen strengen Massstab angelegt. Die ohnehin grosse Bedeutung von Listen im Proporzwahlverfahren wurde dadurch noch verstärkt. Viele Kantone haben ihre Parlamentswahlsysteme entsprechend angepasst (E. 8.3).
6B_1377/2023* (04.09.2024): Strafverfahren; Urteilskompetenz des Einzelgerichts
Die Urteilskompetenz des Einzelgerichts i.S.v. Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO richtet sich zunächst nach dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft. Im weiteren Verlauf des Verfahrens aber danach, welche Strafe und/oder Massnahme für das Einzelgericht konkret in Frage kommt (E. 2.4.3). Die Urteilskompetenz des Einzelgerichts (Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO) hinsichtlich der Obergrenze von zwei Jahren ist restriktiv anzuwenden. Die Grenze von zwei Jahren ist streng zu handhaben. Sie darf unter keinen Umständen überschritten werden (E. 2.5.1). Bei der Umsetzung der „Ausschaffungsinitiative“ hat der Gesetzgeber darauf verzichtet Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO entsprechend zu ergänzen. Dies bedeutet aber nicht, dass es dem Willen des Gesetzgebers entspricht, dass auch ein Einzelgericht eine Landesverweisung aussprechen kann (E.2.7).
23.09.2024 – 27.09.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
4A_145/2024 * (11.09.2024) Urheberrecht; finanzielle Wiedergutmachung
Ein Abmahnschreiben betreffend die Verletzung eines Urheberrechts vermag den guten Glauben nicht zerstören. Solange der Verletzter des Urheberrechts eine vertretbare Rechtsposition einnimmt, liegt keine Bösgläubigkeit vor (E. 2.3 f.). Bei Verletzung von Urheberrechten hängt das Verschulden davon ab, ob der Verletzter den Bestand des vorbestehenden Schutzrechts sowie dessen Schutzumfang kannte bzw. hätte kennen müssen (E. 3). Der Anspruch des in absoluten Rechten Verletzten auf Herausgabe des Gewinns beruht bei Gutgläubigkeit auf den Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung und nur im Falle der Bösgläubigkeit auf Geschäftsanmassung (E. 4.1). Die im Rahmen eines Vergleichs geschlossenen Vereinbarungen sind nicht geeignet, eine hypothetische Lizenzgebühr festzusetzen (E. 4.4).
5A_245/2024 * (29.08.2024) Nichtbekanntgabe einer Betreibung an Dritte
Das Bundesgericht hielt fest, dass hinsichtlich des Zeitpunkts einer «betriebenen Forderung» gemäss Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG auf das Datum der Zustellung des Zahlungsbefehls abzustellen ist (E. 4.4.2). Macht der Schuldner ein entsprechendes Gesuch geltend mit der Begründung, die Forderung sei bereits vor Einleitung der Betreibung bezahlt worden, hat er die Zahlung zu belegen (E. 4.5.1).
9C_673/2023 * (19.08.2024) Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Bern und direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2006-2012
Die Steuerrekurskommission darf als Steuerjustizbehörde nicht über Steuerjahre urteilen, die ihr weder haupt- noch vorfrageweise zur Beurteilung unterbreitet werden. Eine solche Kompetenzüberschreitung zieht Nichtigkeit des Entscheids dieser Steuerperioden nach sich (E. 5.2). Eine Ermessensveranlagungsverfügung ist nichtig, wenn zur qualifizierten inhaltlichen Unrichtigkeit eine gravierende verfahrensrechtliche Verfehlung der Veranlagungsbehörde hinzutritt (E. 6.9.1). Dies ist der Fall, wenn die Veranlagungsbehörde die Ermessensveranlagung dazu missbraucht, die steuerpflichtige Person zu bestrafen, dass sie keine Steuererklärung eingereicht oder sonst im Veranlagungsverfahren ungenügend mitgewirkt hat (E. 6.9.2). Dies entspräche dem klaren Wortlaut, der Gesetzessystemakt sowie der ständigen Rechtsprechung, stünde im groben Widerspruch zur gesetzlichen Ordnung und entspräche nicht mehr grund- und menschenrechtlichen Prinzipien (E. 6.9.2).