Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir – konkret Paul Stübi – wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen.

27.03.2022 – 31.03.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Cathrin Christian

9C_219/2022 (02.03.2023): Alters- und Hinterlassenenversicherung

Das Bundesgericht trat im vorliegenden Fall auf eine Beschwerde gegen das Verwaltungsgericht des Kanton Zugs ein. Zum einen fordert die Beschwerdeführerin die Rückerstattung der provisorisch entrichteten persönlichen Beiträge zzgl. Zins an die Ausgleichskasse und zum anderen eine Parteientschädigung von Fr. 6000.-. Dabei klärte das Bundesgericht auf, ob und ggf. ab welchem Zeitpunkt überschüssige Akontozahlungen als «zu viel bezahlte Beiträge» i.S.v. Art. 16 Abs. 3 AHVG zu betrachten sind und leitete her, dass für den entsprechenden Rückerstattungsanspruch die Verwirkungsfristen von Art. 16 Abs. 3 AHVG mit der definitiven Beitragsfestsetzung zu laufen beginnen (E.4.5.3).

Betreffend der Parteientschädigung machte das Bundesgericht zu Art. 61 lit. g ASTG die Ausführung, dass die Bemessung der Parteientschädigung für das kantonale Verfahren dem kantonalen Recht überlassen ist und das Bundesgericht nur prüft, ob die Höhe der Parteientschädigung vor dem Willkürverbot standhält (E. 5.2). Es hebt die Festsetzung eines Anwaltshonorar indes nur auf, wenn sie ausserhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zu den mit Blick auf den konkreten Fall notwendigen anwaltlichen Bemühungen steht und in krasser Weise gegen das Gerechtigkeitsgefühl verstösst. Vorliegend wurde dies verneint und praxisgemäss eine Parteientschädigung von Fr. 2800.- zugesprochen (E.6.1).

20.03.2022 – 26.03.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

9C_70/2022, 9C_76/2022* (16.02.2023): Niederländische Gesellschaften für Uber-Fahrer AHV-pflichtig

Die niederländische Uber B.V. muss als Arbeitgeberin mit Betriebsstätte in der Schweiz für das Jahr 2014 AHV-Beiträge für Fahrer von UberX, UberBlack und UberVan bezahlen. Das gleiche gilt für Rasier Operations B.V. in Bezug auf UberPopFahrer. Die beiden Gesellschaften sind verpflichtet, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich Angaben zu den bezahlten Löhnen zu machen.

In einem Urteil von 2022 (2C_34/2021) ist das Bundesgericht bereits zum Schluss gekommen, dass das Kantonsgericht Genf in Bezug auf den Fahrdienst von Uber nicht willkürlich entschieden hat, wenn es von einem Arbeitsverhältnis von in Genf tätigen Uber-Fahrern zu Uber B.V. ausgegangen ist.

8C_293/2021* (01.03.2023): Sozialhilfe (Zuständigkeit)

Vorliegend ging es um sogenannte «flottante» Personen, bei denen die Unterstützungspflicht nicht klar ist. Es wurde diskutiert, ob im ZUG diesbezüglich eine Gesetzeslücke gegeben sei. Das Bundesgericht verneinte dies (E. 7.2.2. ff.). Ist für die Kostengutsprache betreffend Beschwerdegegnerin 1 (Mutter) die Standortgemeinde des Spitals, mithin die PG Münsterlingen als Aufenthaltsort zuständig, ging die Vorinstanz zu Recht davon aus, dass für die Beschwerdegegnerin 2 (Kind) mangels Vorliegens eines der in Art. 7 Abs. 1 bis 3 lit. c ZUG aufgelisteten Tatbestände, namentlich mangels (Unterstützungs-) Wohnsitz der Beschwerdegegnerin 1, der Auffangtatbestand von Art. 7 Abs. 3 lit. d ZUG (Aufenthaltsort) zur Anwendung gelangt (E. 7.2.4.).

9C_677/2021* (23.02.2023): Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Freiburg und direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2018

Die Beschwerdeführer renovierten ein Bauernhaus. Fraglich war insbesondere, ob sie für die Renovation angefallene Kosten als Unterhaltskosten gemäss Art. 32 Abs. 2 DBG vom steuerbaren Einkommen abziehen können. Das Bundesgericht leitet in diesem Urteil eine Praxisänderung ein. Nach dem Willen des Gesetzgebers sei für alle Arbeiten an einer neu erworbenen Liegenschaft – wie bei allen anderen Liegenschaftskosten (vgl. E. 4.1) – individuell aufgrund ihres objektiv-technischen Charakters – und unter Mitwirkung der steuerpflichtigen Person (Art. 126 Abs. 1 und 2 DBG) – abzuklären, ob sie dazu dienen, einen früheren Zustand der Liegenschaft wiederherzustellen, mithin werterhaltend wirken. Kann dies nicht festgestellt werden, ist im Bereich der Einkommenssteuer gemäss der Normentheorie (Art. 8 ZGB analog) zulasten der steuerpflichtigen Person davon auszugehen, dass die Kosten nicht der Instandstellung dienen und folglich nicht abgezogen werden können. (E. 4.6.).

1B_162/2022* (17.02.2022): Strafverfahren; Antrag auf Erstellung eines neuen forensisch-psychiatrischen Gutachtens

Das Bundesgericht bestätigt das sehr beschränkte Beschwerderecht gegen abgewiesene Beweisanträge im Vorverfahren. Vorliegend beantragte der Beschwerdeführer ein neues forensisches Gutachten. Er befürchtete einen tatsächlichen Nachteil, da das Gutachten nicht zu seinen Gunsten ausgefallen ist. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab. Es wäre ein rechtlicher Nachteil nötig gewesen (E. 3.3., 3.5.).

13.03.2022 – 19.03.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Can Kirmizikaya

6B_1133/2021 (01.02.2023): Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz; Strafzumessung; Beschleunigungsgebot

In diesem Urteil befasst sich das Bundesgericht mit einem Strassenverkehrsdelikt aus dem Aargau. Zum Leiturteil wird der Entscheid aufgrund zwei Teilbereichen. Einerseits äussert sich das BGer zu SVG-Kontrollen im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Deutschland (E.1). Andererseits erörtert das BGer die DSG-Konformität von Videoüberwachungen und der strafrechtlichen Verwertbarkeit von betreffenden Aufnahmen (E.2), eine äusserst aktuelle Thematik.
Hinsichtlich der datenschutzrechtlichen Komponente macht der Beschwerdeführer geltend, dass die Videoüberwachung im Parkhaus des fraglichen Parkhauses, deretwegen er letztlich überführt worden sei, gemäss Art. 141 Abs. 4 StPO unverwertbar wäre. Insbesondere dürfe die Aufnahme in einem privaten Parkhaus nicht dazu dienen, Verkehrsdelikte auf öffentlichen Strassen, ausserhalb des Machtbereichs des Flughafens aufzuklären. Sein Argument stützt er auf Art. 4 Abs. 4 DSG, wonach ihm ein solcher Zweck der beschaffenen Personendaten im Parkhaus nicht erkennbar gewesen sei (E.2.1). Das BGer führt aus, dass auf dem Parkticket, der Parkingordnung und der Webseite des Parkhauses entsprechend darauf hingewiesen werde, dass die Aufnahmen der Verhinderung und Aufklärung von rechtswidrigen Handlungen dienen und den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt werden (E.2.2). Ob damit die Anforderungen nach Art. 4 Abs. 4 DSG erfüllt werden, lässt das BGer offen. Nichtsdestotrotz würden die privaten Interessen des Parkhauses nach Sicherheit überwiegen, weshalb die Aufnahmen rechtmässig erhoben worden und in einem Strafprozess verwertbar seien (E. 2.4.1.f.).

8C_109/2022 (22.02.2023): Unfallversicherung

Vorliegend war umstritten, ob ein Verein der Versicherungspflicht der Suva zu unterstellen sei. Der Verein A., Sektion Z., bezweckt die Wahrung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder im Strassenverkehr und in allen verkehrspolitischen, wirtschaftlichen und mit der Mobilität zusammenhängenden Bereichen.
Nach Art. 66 Abs. 1 lit. f UVG i.V.m. Art. 77 lit. f UVV müssen Arbeitnehmer von Betrieben, die Motorfahrzeuge aufbewahren, reinigen, reparieren oder bereitstellen, bei der Suva versichert werden (E.3.1.f.). Vorliegend ist einerseits umstritten und zu prüfen, ob es sich beim Beschwerdeführer um einen gegliederten oder einen ungegliederten Betrieb handelt. Weiter bestreitet der Beschwerdeführer, eine Tätigkeit auszuüben, welche zu einer obligatorischen Versicherung seiner Arbeitnehmer bei der Suva führt (E.5.).
Das BGer wies die Beschwerde ab und bestätigte die Unterstellung der Arbeitnehmer des Beschwerdeführers unter die Suva mit der Begründung, dass es sich zwar um einen gegliederten Betrieb, jedoch mit sachlichem Zusammenhang der Hilfs- und Nebenbetriebe mit dem Hauptbetrieb gemäss Art. 88 Abs. 1 UVV handelt (E.5.2.3.). Aufgrund der Versicherungspflicht des Hauptbetriebes, untersteht der ganze Betrieb der Versicherungspflicht (E.5.2.3.).

Nachträge

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

2C_845/2021* (18.10.2022): Verwaltungsverfahren / Mitwirkungspflicht der Parteien / Gesundheitsrecht / Berufsaufsicht / Entbindung vom Arztgeheimnis

Ein Spital hat eine selbständige Ärztin (Beschwerdeführerin) bei der Aufsichtskommission angezeigt, weil diese eine Patientin unsachgemäss behandelt habe. Der Kanton Genf verhängte daraufhin eine Busse (Art. 43 Abs. 1 lit. a MedBG). Die kantonalen Instanzen stellten weitgehend auf die Sachverhaltsdarstellung des Spitals ab, da die Patientin die Ärztin nicht vom Arztgeheimnis (Art. 321 Ziff. 1 StGB) entbinden wollte, und die Ärztin trotz wiederholter Aufforderung kein entsprechendes Gesuch bei der Aufsichtsbehörde (Art. 321 Ziff. 2 StGB) eingereicht hatte. Materiell kann offengelassen werden, ob sich Ärztinnen und Ärzte in Disziplinarverfahren überhaupt auf das Arztgeheimnis berufen können. Die Beschwerdeführerin hätte jedenfalls die zuständige Behörde um Entbindung vom Arztgeheimnis ersuchen müssen. Im Verwaltungsverfahren sind die Parteien nämlich verpflichtet, an der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken (Art. 22 LPA/GE [RS/GE E 5 10]).

9C_650/2021* (7.11.2022): KVG / DSG / Holding mit Krankenversicherung und VVG-Versicherung / Anzeigepflicht / Datenschutz

Im Rahmen der Durchführung der sozialen Krankenversicherung wird eine öffentliche Aufgabe des Bundes erfüllt und das Durchführungsorgan unterliegt strengeren Datenschutzregeln als Unternehmen ohne eine solche Funktion. Ungeachtet der gemeinsamen Organisation der Avenir Assurance Maladie SA und der Mutuel Assurances SA, die voneinander getrennte juristische Personen sind, ist Letztere gegenüber Ersterer eine Drittperson i.S.v. Art. 84a Abs. 5 KVG. Wenn das Verhalten eines sozialen Krankenversicherers in Frage steht, sind die Merkmale der Organisation der Krankenkasse zu berücksichtigen, die mit dem gesetzlichen Datenschutzregime vereinbar sein müssen, dem sie als Bundesorgan i.S.v. Art. 3 lit. 5 DSG unterstehen. Eine Weitergabe von Personaldaten kommt nur mit der Einwilligung der betroffenen Person in Betracht, die vorliegend nicht gegeben ist. Die Aufsichtsbehörde verlangt von den sozialen Krankversicherern, dass sie getrennte Datenbearbeitungswege wählen und einrichten, wenn die Verwendung derselben Personendatenströme für die obligatorische Krankenpflegeversicherung und für Versicherungen nach VVG ein Missbrauchspotenzial birgt.

2C_53/2022* (22.11.2022): Medizinalberufe / ärztliche Berufspflichten / Disziplinarrecht / Vorrang des Bundesrechts

Aufgrund einer Fehldiagnose entfernte ein Genfer Gynäkologe einer Patientin die Gebärmutter. Die Patientin zeigte den Arzt bei der Aufsichtskommission an, worauf der Kanton Genf ein dreimonatiges Berufsverbot verhängte. Der Gynäkologe erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Das Bundesrecht regelt die Berufspflichten von Personen, die einen universitären Medizinalberuf in eigener fachlicher Verantwortung ausüben, abschliessend (Art. 40 MedBG). Kantonale Bestimmungen sind mit dem Grundsatz des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) vereinbar, soweit sie die Pflichten nach Art. 40 MedBG präzisieren oder konkretisieren. Dies gilt insbesondere für die Generalklauseln betreffend die sorgfältige und gewissenhafte Ausübung der medizinischen Berufe (Art. 40 lit. a MedBG) sowie die Wahrung der Patientenrechte (Art. 40 lit. c MedBG). Diesbezüglich ist das Genfer Recht zu berücksichtigen, soweit es in der Schweiz allgemein anerkannte Regeln und Grundsätze zum Ausdruck bringt.

2C_382/2021* (23.09.2022): Steuerrecht / Besteuerung von Unterhaltsbeiträgen / Gestehungskosten / Anwaltskosten

Der Genfer Cour de justice entschied, dass eine Steuerzahlerin Anwaltskosten zur Durchsetzung von Unterhaltsforderungen von ihrem steuerbaren Einkommen abziehen kann. Die Eidgenössische Steuerverwaltung erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Erhaltene nacheheliche Unterhaltsbeiträge sowie Kindesunterhalt unterliegen der Einkommenssteuer (Art. 23 lit. f DBG). Die zur Erzielung eines steuerbaren Einkommens nötigen Aufwendungen (Gestehungskosten) können von diesem abgezogen werden (Art. 25 DBG). Es handelt sich um einen allgemeinen Grundsatz, der auch für jene Einkommensarten gilt, bei denen dies gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist. Nötig ist allerdings ein «qualifiziert enger Konnex» zwischen den getätigten Ausgaben und den erzielten Einkünften. Bei Anwaltskosten hat das Bundesgericht das Bestehen eines solchen bisher noch nie bejaht. Auch zwischen Unterhaltseinnahmen und Anwaltskosten besteht kein genügender Konnex. Dies namentlich, weil es in Scheidungsverfahren neben Unterhaltsbeiträgen regelmässig auch um nicht-finanzielle Ansprüche bzw. finanzielle Ansprüche, die kein steuerbares Einkommen darstellen (z.B. güterrechtliche Auseinandersetzung), geht. Es ist unmöglich, den Teil der Anwaltskosten, der sich auf die Unterhaltsforderung bezieht, sauber auszuscheiden. Zudem können Unterhaltspflichtige ihre Anwaltskosten auch nicht abziehen – das Urteil der Vorinstanz hätte eine Ungleichbehandlung der (ehemaligen) Ehegatten zur Folge gehabt.

2C_772/2021 2C_773/2021* (08.11.2022): Steueramtshilfe / Verwaltungsverfahren / rechtliches Gehör / Eröffnung durch amtliche Veröffentlichung

Kann die ESTV eine beschwerdeberechtigte Person nicht anders erreichen, so informiert sie diese über das Amtshilfeersuchen durch Veröffentlichung im Bundesblatt (Art. 14 Abs. 5 StAHiG). Vorliegend waren der ESTV nur die Nummern der betreffenden Bankkonten, nicht aber die Konteninhaber bekannt, weshalb sie diese damals nicht anders als durch amtliche Veröffentlichung erreichen konnte. Die Schlussverfügung eröffnet die ESTV einer im Ausland ansässigen beschwerdeberechtigten Person über eine zur Zustellung bevollmächtigte Person oder per Post, sofern dies im betreffenden Staat zulässig ist. Andernfalls eröffnet sie die Verfügung durch Veröffentlichung im Bundesblatt (Art. 17 Abs. 3 StAHiG). Die Information über den Wohnsitz der beschwerdeberechtigten Personen stammt entweder aus dem Amtshilfegesuch oder den Dokumenten der Bank, ohne dass die ESTV sie überprüfen müsste. Ebenso wenig muss die ESTV den Zustellungsvertreter eines Konteninhabers fragen, ob er nicht auch die wirtschaftlich Berechtigten vertrete. Zudem gab es in der betreffenden Periode auch keine staatsvertragliche Grundlage für die direkte Zustellung der Verfügung nach Frankreich.

1C_638/2021* (16.11.2022): Politische Rechte / Normenhierarchie / gesetzliche Regelung direktdemokratischer Instrumente / Raumplanung

Eine Genfer Volksinitiative verlangt eine Änderung des kantonalen Gesetzes über die Entwicklungszonen (LGZD/GE [RSG L 1 35]) in Bezug auf den Erlass von Quartierplänen: Das Letztentscheidungsrecht über Quartierpläne bleibt nach wie vor bei der Kantonsregierung (vgl. Art. 26 RPG). Neu soll aber nicht nur das kantonale Departement einen Quartierplanentwurf einreichen können, sondern auch die betreffenden Grundeigentümer. Werden mehrere Quartierpläne eingereicht, soll eine kommunale Volksabstimmung darüber entscheiden, welchen Entwurf die Kantonsregierung zu behandeln hat. Die zuständigen kantonalen Stellen haben die Initiative für teilungültig erklärt, da die Genfer Kantonsverfassung eine solche Gemeindeabstimmung nicht vorsehe. Das Initiativkomitee erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Jeder Kanton gibt sich eine demokratische Verfassung (Art. 51 Abs. 1 BV). Alle Kantonsverfassungen haben ein direkt gewähltes Parlament, die Gewaltentrennung sowie Verfassungsinitiative und -referendum vorzusehen. Abgesehen von diesen Mindestanforderungen sind die Kantone frei, welche Inhalte sie auf Verfassungsebene regeln wollen. Namentlich sind sie nicht verpflichtet, alle wichtigen Normen oder nur wichtige Normen in ihre Verfassungen aufzunehmen. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung bedürfen neue politische Rechte einer formellen Rechtsgrundlage, ob sich eine solche in der Verfassung oder einem einfachen Gesetz befinden muss, richtet sich jedoch nach kantonalem Recht. Die Genfer Kantonsverfassung regelt die kantonalen und kommunalen direktdemokratischen Mittel ausführlich (Art. 52–72 KV/GE). Sie verbietet jedoch nicht, durch Gesetz zusätzliche Volksrechte zu schaffen. Hinzu kommt, dass das von der Initiative verlangte Volksrecht einen sehr beschränkten Teilbereich der Raumplanung betrifft. Es entspricht zudem dem raumplanerischen Grundsatz der Beteiligung der Bevölkerung (Art. 4 RPG; Art. 134 KV/GE). Gutheissung der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.

2C_959/2021, 2C_961/2021* (30.11.2022): Wirtschaftsfreiheit / Binnenmarkt / Konzession / Plakatierung im öffentlichen Raum / Nichtigkeit eines Vergabeentscheides

Die Gemeinde Lancy (Kanton Genf) konzessionierte die A. AG mit der öffentlichen Plakatierung. Im Jahr 2018 kontaktierte deren Konkurrentin B. AG die Gemeinde und fragte nach, wann die Plakatierung das nächste Mal ausgeschrieben werde. Die B. AG erhielt nie eine Antwort. 2019 verlängerte Lancy die Konzession der A. AG ohne öffentliche Ausschreibung und schloss mit dieser einen zehnjährigen Plakatierungsvertrag. Sobald die B. AG hiervon erfuhr, wandte sie sich an die Genfer Verwaltungsgerichtsbarkeit. Diese erklärt den Verlängerungsentscheid für nichtig und wies Lancy an, die Plakatierung neu auszuschreiben. Hinsichtlich des Schicksals des Konzessionsverhältnisses verwies sie die Parteien an die Zivilinstanzen. Die Gemeinde Lancy und die A. AG erheben Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten.

Das Vorgehen der Gemeinde Lancy verletzt zudem die Wirtschaftsfreiheit (Art. 94 Abs. 1 BV), die Grundsätze des freien Wettbewerbs, der staatlichen Wettbewerbsneutralität (Art. 27 und Art. 94 BV) sowie der Gleichbehandlung der Konkurrenten (Art. 27 BV), ohne dass irgendeine Rechtfertigung bestünde. Der Rechtsverstoss war leicht erkennbar, zumal die A. AG bereits an vielen öffentlichen Ausschreibungen teilgenommen hatte und die Gemeinde von der B. AG ausdrücklich auf die Ausschreibungspflicht hingewiesen wurde. Der Verlängerungsentscheid erweist sich in der Tat als nichtig. Die Nichtigkeitsfolgen regelt das BGBM nicht. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass Behörden auch ohne gesetzliche Grundlage die notwendigen Massnahmen zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes anordnen können. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber mit dem BGBM von diesem Grundsatz abweichen und etwa die beschaffungsrechtliche Regel (vgl. Art. 18 IVöB 2001; Art. 58 IVöB 2019) übernehmen wollte, dass sich Gerichte bei abgeschlossenem Vertrag auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Vergabe beschränken müssen. Die Weisung zur Neuausschreibung der betreffenden Konzession war somit zulässig. Schliesslich ist zu bemerken, dass – entgegen der Annahme der Vorinstanz – Konzessionsvereinbarungen nicht dem Privatrecht, sondern dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind. Verwaltungsgerichte haben grundsätzlich die Kompetenz, sich mit den Auswirkungen von BGBM-Verletzungen auf nachgelagerte Konzessionsverhältnisse zu befassen.

1B_282/2022* (29.11.2022): StPO / StGB / Strafprozess / verdeckte Überwachungsmassnahmen

Die Genfer Polizei beantragte bei der Staatsanwaltschaft die Eröffnung einer Untersuchung wegen Verdachts auf Menschenhandel gegen die Familie A. Die Staatsanwaltschaft ordnete sodann das Anbringen von Kameras ausserhalb des Wohnhauses an, wobei dies durch Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts vom 17. November 2017 autorisiert wurde. Dieses Überwachungssystem war ab dem 22. Januar 2018 in Betrieb, durch neue Erkenntnisse wurde jedoch eine Verlängerung der Überwachung erforderlich. Die Staatsanwaltschaft beantragte am 21. Februar 2018 eine Verlängerung der Massnahme um drei Monate, welche am darauffolgenden Tag genehmigt wurde. Die Beschwerdeführer verlangten die Aufhebung der Beschlüsse des Zwangsmassnahmengerichts vom 17. November 2017 und dem 22. Februar 2018, die Feststellung der Rechtswidrigkeit der geheimen Überwachung sowie die sofortige Vernichtung der Bildträger. Sie machen geltend, dass das Verlängerungsgesuch der Staatsanwaltschaft vom 21. Februar 2018 verspätet eingereicht wurde, da die Anordnung des Zwangsmassnahmengerichts vom 17. November 2017 die Überwachung bis zum 20. Februar 2018 genehmigte. Gemäss Art. 274 Abs. 5 StPO, welcher gemäss Art. 281 Abs. 4 StPO auf andere technische Überwachungsmassnahmen Anwendung findet, kann das Zwangsmassnahmengericht die Bewilligung für höchstens drei Monate erteilen und sollte eine Verlängerung notwendig sein, muss diese die Staatsanwaltschaft vor Ablauf der Frist beantragen. Nach sorgfältiger Auslegung kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass Beweise, welche zwischen dem Ende der bewilligten Überwachungsdauer und dem Eingang des Antrages auf Verlängerung erhoben werden, als absolut unverwertbar zu betrachten sind. Die am 21. Februar durchgeführte Überwachung war somit rechtswidrig und die aufgezeichneten Daten mussten unverzüglich vernichtet werden.

5A_650/2022* (13.10.2022): SchKG / Zahlungsbefehl / Zustellung an den Ehegatten

Bei einem gemeinsam betriebenen landwirtschaftlichen Gewerbe i.S.v. Art. 40 Abs. 1 BGBB hat der Ehegatte keinen Anspruch auf Zustellung eines Zahlungsbefehls, wenn es sich dabei nicht gleichzeitig um die Familienwohnung (Art. 169 ZGB) handelt. Art. 153 Abs. 2 lit. b ZGB enthält insofern keine Gesetzeslücke.

4A_298/2021* (08.11.2022): Haftpflichtversicherung / Forderung in Euro / Unterbrechung der Verjährung durch ein Schlichtungsgesuch mit Rechtsbegehren in Schweizer Franken

Nach der Rechtsprechung sind zu Unrecht in Schweizer Franken gestellte Begehren abzuweisen. Der Richter muss die Nichtexistenz der Forderung feststellen und die Klage wegen Verstosses gegen Art. 84 Abs. 1 OR als unbegründet abweisen. Der Gläubiger hat jedoch die Möglichkeit, eine neue Klage in einer Fremdwährung einzureichen. Denn der Streitgegenstand der neuen Klage in ausländischer Währung ist nicht mit dem der ursprünglichen in Schweizer Franken identisch. Die Verjährung einer Fremdwährungsforderung wird aber gleichwohl auch dann unterbrochen, wenn der Gläubiger ein Schlichtungsgesuch in Schweizer Franken stellt, und zwar ungeachtet des weiteren Verlaufs des Verfahrens. Denn der Gläubiger hat damit einer amtlichen Stelle seine Absicht, die Zahlung seiner Forderung zu betreiben, ordnungsgemäss kundgetan und für den Schuldner war diese Absicht nach Treu und Glauben erkennbar. Weiter wäre nicht einzusehen, weshalb die Verjährung einer Forderung in ausländischer Währung durch ein Betreibungsbegehren in Schweizer Franken unterbrochen werden könnte, nicht aber durch ein Schlichtungsgesuch in Schweizer Franken (E. 6).

27.02.2022 – 03.03.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Cathrin Christian

4A_357/2022* (30.01.2023): Vertragsrecht

Das Bundesgericht entschied im vorliegenden Fall, dass bei einer Vollzeitbeschäftigung eine ausnahmsweise Abgeltung des Ferienlohnanspruchs aufgrund monatlicher Schwankungen des geschuldeten Lohnes ausgeschlossen sei. Mit Blick auf die heute zur Verfügung stehenden Softwareangebote und Zeiterfassungssysteme erscheint die Berechnung des Ferienlohnes, auch bei monatlichen Lohnschwankungen, nicht mehr als unzumutbar. Der Schutzzweck von Art. 329d OR würde untergrabt werden, wenn bei einem Vollzeitpensum wegen Schwankungen des geschuldeten Lohnes vom Abgeltungsverbot abgewichen werden dürfte (E. 2.2.3.). Da die Abgeltung des Ferienlohns mit dem laufenden Lohn bei unregelmässigen Beschäftigungen Schwierigkeiten bereiten könnte, hat das Bundesgericht in solchen Fällen ausnahmsweise Abweichungen vom sonst zwingenden Gesetzestext nach Art. 329d OR zugelassen. Dafür mussten allerdings eine materielle und zwei formelle Voraussetzungen geprüft werden (E. 2.2.1.):

  1. Es muss sich um eine unregelmässige Beschäftigung handeln
  2. Lohnanteil, der für die Ferien bestimmt ist, muss klar und ausdrücklich ausgeschieden sein (sofern ein schriftlicher Arbeitsvertrag vorliegt)
  3. In den Lohnabrechnungen muss der für die Ferien bestimmte Lohnanteil ausgewiesen werden (mittels Angabe bestimmten Betrags oder Prozentsatzes).

4A_380/2022* (30.01. 2023): Gesellschaftsrecht

An einer Generalversammlung, welche gestützt auf die COVID-19-Verordnung auf schriftlichem Wege erfolgte, wurde das Antragsrecht einer Aktionärin verletzt. Die Begründung des Verwaltungsrats lag darin, dass das Antragsrecht der Aktionärin zwingen an die physische Teilnahme der Aktionäre an der GV geknüpft sei. Nach dieser Konzeption hätten die Aktionäre jedoch keinerlei Möglichkeit gehabt, Anträge zu stellen. Das individuelle Antragsrecht wäre ausser Kraft gesetzt worden, was keinesfalls Sinn und Zweck von aArt. 6b Covid-19-Verordnung 2 bzw. aArt. 27 Covid-19-Verordnung 3 gewesen sein konnte (E. 7.1.). Des Weiteren ermöglichte der Bundesrat auch die Ausübung der GV in elektronischer Form oder durch einen unabhängigen Stimmrechtsvertreter (E. 7.3.). Das Bundesgericht kam zum Entschluss, dass die Covid-19-Verordnungen nicht zugelassen hätten, das individuelle Antragsrecht eines Aktionärs zu verhindern. Somit sind GV-Beschlüsse, welche das Antragsrecht verletzten, anfechtbar.

6B_222/2022* (18.01.2023): Straftaten

Im konkreten Fall überschritt der Beschwerdeführer die Höchstgeschwindigkeit von 40km/h um 49km/h, weshalb er wegen grober Verkehrsverletzung bestraft wurde. Er erhob gegen diesen Strafbefehl Einsprache, mit welcher er die Genauigkeit der Geschwindigkeitsmessung in Frage stellte. Das von der Staatsanwaltschaft veranlasste Gutachten kam zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer mind. 50km/h zu schnell gefahren sei. Daraufhin zog der Beschwerdeführer die Einsprache zurück. Die Staatsanwaltschaft erhob trotzdem Anklage, und zwar wegen krasser Geschwindigkeitsüberschreitung. Das Bundesgericht hielt dazu folgendes fest: Wird gegen einen Strafbefehl Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind. Danach entscheidet sie, ob sie; am Strafbefehl festhalten; das Strafverfahren einstellen; einen neuen Strafbefehl erlassen; Anklage erheben (E. 1.1.2.). Nach Abnahme der Beweise geht die Staatsanwaltschaft nach Art. 355 Abs. 1lit. c oder d StPO vor. Die Staatsanwaltschaft ist nicht an ihren ursprünglichen Strafbefehl gebunden, wenn sich die Sach- oder Rechtslage anders präsentiert und damit auch das Strafmass bzw. Sanktionen ändern. Zudem gilt dann das Verbot der «reformatio in peius» nicht mehr. Die Staatsanwaltschaft hat je nachdem, ob das Strafmass nach der neuen Sach- oder Rechtslage noch strafbefehlstauglich ist, einen neuen Strafbefehl zu erlassen oder sonst nach Art. 324 ff. StPO eine selbständige Anklage beim erstinstanzlichen Gericht zu erheben. Für neue Delikte ist eine Untersuchung im Sinne von Art. 309 StPO zu eröffnen. In Bezug auf diese neuen Delikte können danach verschiedene Besonderheiten von Art. 355 Abs. 2 und Art. 356 StPO nicht mehr zur Anwendung gelangen (E. 1.1.2.). Wurde Einsprache erhoben, ist die Verfügungsmacht der beschuldigten Person bis zum Entscheid der Staatsanwaltschaft über den neuen Verfahrensausgang nach Art. 355 Abs. 3 lit. a-d StPO entzogen (E. 1.2.). Der Einsprecher kann von seinem Rückzugsrecht nur noch ab dann Gebrauch machen, wenn die Staatsanwaltschaft i.S.v. Art. 355 Abs. 3 lit. a StPO am Strafbefehl festhält, indem sie ihn an den Richter überweist.

20.02.2022 – 26.02.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

8C_740/2021* (19.01.2023): Kantonale Sozialversicherung (Prämienverbilligung)
Streitig war der Anspruch des Beschwerdeführers auf Prämienverbilligungen für das Jahr 2020. Umstritten war insbesondere, ob das kantonale Recht, vorliegend Zürich, bundesrechtskonform war (E. 2.). Der Beschwerdeführer drang mit seiner konkreten Normenkontrolle durch. Im hier zu beurteilenden Fall bedeutete dies, dass die Gesundheitsdienste den Anspruch des Beschwerdeführers auf Prämienverbilligungen für das Jahr 2020 nicht mit dem Verweis auf § 62 Abs. 2 VEG KVG i.V.m. § 16 Abs. 2 aVEG KVG bzw. die Steuereinschätzungen der Jahre 2017 und 2019 hätten verneinen dürfen (E. 5.7.).

1C_104/2022* (20.12.2022): Ermächtigung
Nach Art. 7 Abs. 2 lit. b StPo können die Kantone vorsehen, dass die Strafverfolgung der Mitglieder ihrer Vollziehungs- und Gerichtsbehörden wegen im Amt begangener Verbrechen oder Vergehen von der Ermächtigung einer nicht richterlichen Behörde abhängt. Im vorliegenden Entscheid erläuterte das Bundesgericht, dass und wieso Private, denen öffentliche Aufgaben übertragen werden, in der Regel ohne Ermächtigung i.S.v. Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO verfolgt werden dürfen bzw. müssen (E. 3.4.5.). Laut dem neuen Entscheid sind Private, denen nur öffentliche Aufgaben übertragen wurden, nicht zu schützen (E. 4.4.).

6B_101/2022* (30.01.2023): Amtsmissbrauch; Willkür, Anklageprinzip
Vorliegend war ein Polizist angeklagt, der gegen den Geschäftsführer eines Nachtlokals unnötigerweise Pfefferspray einsetzte. Das Bundesgericht äusserte sich ausführlich zum Tatbestand von Art. 312 StGB, Amtsmissbrauch (E. 1.3.).

13.02.2022 – 19.02.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Can Kirmizikaya

5A_794/2022 (16.02.2023): Schuldbetreibungs- und Konkursrecht (Arresturkunde)
Anlass zur Beschwerde an das Bundesgericht gab der Vollzug eines Arrestbefehls durch die Steuerbehörde, der gestützt auf eine Sicherstellungsverfügung für die direkten Bundessteuern in der Höhe von CHF 65’000’000.- ergangen ist (E.2.).

Das Bundesgericht verweist und bestätigt zunächst seinen Entscheid vom 1. Februar 2022 (BGE 148 III 138), wonach die Bezeichnung eines Betreibungsamts als Lead-Betreibungsamt zum Vollzug eines schweizweiten Arrestes rechtsgültig ist. Art. 89 SchKG ist im schweizweiten Arrestzug sinngemäss anwendbar (E.2.1.1. f.).

In vorliegendem Entscheid war unter anderem die Frage strittig, ob die Bezeichnung eines solchen Lead-Betreibungsamts einer umfassenden Prüfung durch die Aufsichtsbehörde untersteht (E. 2.3.). Insbesondere problematisch war dies deshalb, weil die Steuerbehörde die Bezeichnung des Lead-Betreibungsamtes in einem separaten Arrestbefehl vornahm und nicht in der Sicherstellungsverfügung. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung der Rechtsweggarantie gemäss Art. 29a BV geltend, weil sich die kantonale Vorinstanz nicht als zuständig für den Rekurs gegen den Arrestbefehl erachtete (E. 2.3.1).

Das Bundesgericht hielt fest, dass die Sicherstellungsverfügung der Steuerbehörde nicht Gegenstand des Verfahrens bilden würde und liess die Frage offen, ob diesbezüglich eine Rechtslücke in der Prüfungspflicht der Aufsichtsbehörde bzw. der Vorinstanz besteht (E.2.5.3.). Das Gericht stellte lediglich fest, dass keine gesetzliche Verpflichtung der Vorinstanz als kantonale Aufsichtsbehörde geschaffen wird, auf die hier angehobene Beschwerde gemäss Art. 17 SchKG einzutreten und die durch die Arrestbehörde vorgenommene Bestimmung des Lead-Betreibungsamtes auf seine Rechtmässigkeit zu überprüfen (E.2.5.4). Das Bundesgericht wies die Beschwerde dementsprechend ab.

06.02.2022 – 10.02.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Max Bieri

1B_614/2022, 1B_628/2022  (10.01.2023): Strafverfahren; Haftentlassungsgesucht
Das Bundesgericht hatte im vorliegenden Fall darüber zu urteilen, ob die Staatanwaltschaft über ein Beschwerderecht gegen Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte über die Anordnung, Aufhebung bzw. Verlängerung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft gegen Beschuldigte verfügt. Die Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft in diesen Situationen wurde bereits im Rahmen der Revision der StPO von der Legislative besprochen und abgelehnt (E. 2.3. f.). Entsprechend dem Willen des Gesetzesgebers bestätigt das Bundesgericht, dass die Staatanwaltschaft über kein Beschwerderecht gegen Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte über die Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft gegen Beschuldigte verfügt (E. 2.4.).

2C_876/2020 (13.09.2022): Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2018-2020
Die B. AG wollte nach Aufgabe ihrer operativen Tätigkeit, eine vormals genutzte Fabrikliegenschaft in eine Wohnüberbauung entwickeln und diese alsdann einem Investor veräussern. Im Sinne einer Zwischennutzung sollte das Gebäude vorerst an Dritten vermietet werden. Dabei wollte die B. AG, für die Versteuerung der Vermietungsleistung optieren. Nicht lange nach dem Beginn der Zwischennutzung veräusserte die B. AG die Immobilie an die A. AG. Daraufhin erliess die ESTV zuhanden der A. AG eine Festellungsverfügung, in der zum Ausdruck gebracht wurde, dass die A. AG nicht berechtigt sei, die im Zusammenhang mit dem Rückbau entstehenden Vorsteuern zum Abzug zu bringen. Dagegen erhob die A. AG Beschwerde.

Ein Gebäude durchläuft gemäss dem Bundesgericht im Verlaufe seines Bestehens drei verschiedene Phasen («Erstellung», «Betrieb», «Abbruch»/«Verkauf») (E.3.2.4.). Ob die im Zusammenhang mit der Erstellung oder dem Rückbau anfallenden Vorsteuern zum Abzug zuzulassen seien, sei davon abhängig, in welcher Weise das Gebäude während der Phase «Betrieb» genutzt worden ist (E.3.2.4.). Aufgrund dessen, dass die Immobilie durch die B. AG für mehrwertsteuerbelastete Tätigkeiten verwendet wurde, sei die A. AG gemäss BVGer dazu berechtigt, die Vorsteuern abzuziehen.

In Übereinstimmung mit der ESTV hält das Bundesgericht demgegenüber fest, dass sich nur die B. AG (vorheriger Eigentümer) bei einem Rückbau auf die bisherige mehrwertsteuerliche Behandlung der Phase «Betrieb» stützen kann. Für den neuen Eigentümer, die A. AG sei indes nicht beachtlich, wofür die Immobilie ehemals genutzt wurde (E. 4.3.3.2.). Der Rückbau stelle aus der Sicht der A. AG den ersten Schritt der Phase «Erstellung» dar. Entscheidend sei nicht die bisherige mehrwertsteuerliche Nutzung, sondern die künftig geplante. Im vorliegenden Fall handelt es sich hierbei um die Erstellung von nicht-optierbaren Wohnflächen. Entsprechend sei das Vorsteuerabzugsrecht der A. AG. nicht gegeben. Die temporäre optierte Zwischenvermietung genüge nicht, um den Rückbau als Phase «Abbruch»/«Verkauf» zu qualifizieren (E. 4.3.4.2.).

30.01.2022 – 03.02.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Cathrin Christian

1C_141/2022 (19.12. 2022): Bürgerrecht und Ausländerrecht: Einbürgerung
Im vorliegenden Fall handelte es sich um eine Familie israelischer Staatsangehörigkeit, welcher vom Staatssekretariat für Migration (SEM) die eidgenössische Einbürgerung verwehrt wurde. Die Begründung lag darin, dass die Beschwerdeführenden familiäre Beziehungen hatten, welche die Sicherheit, den Ruf und die Integrität der Schweiz gefährden könnten. Dafür stütze sich das Bundesverwaltungsgericht u.a. auf Medienbeiträge, ohne die Beschwerdeführenden anzuhören. Das Bundesverwaltungsgericht hielt im entsprechenden Urteil fest, dass die Anhörung betreffend Medienbeiträge je nach Quelle unterschiedlich ausfallen kann (E. 3.4) und dass die Verweigerung der Einbürgerung mit Rückgriff auf enge familiäre Bande mit Begründung einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nur zulässig ist, wenn die betroffene einbürgerungswillige Person selbst zur Förderung der Gefährdungslage beiträgt oder davon bewusst massgeblich profitiert. Eine Kollektivbeurteilung ohne individuellen Bezug ist nicht zulässig (E. 4.2).

Das Bundesgericht hielt betreffend die Anhörung zu Medienbeiträgen folgendes fest (E. 3.4):

  • Stammen die Medienbeiträge aus behördlichen Internetquellen oder ggf. aus eigenen Internetauftritten einer Prozesspartei zu rein objektivierbaren Fakten, so müssen die Verfahrensbeteiligten nicht angehört werden.
  • Stammen die Medienbeiträge aus interpretationsbedürftigen Internetquellen oder solchen, die mit persönlichen Einschätzungen versehen sind, muss den Betroffenen die Gelegenheit eingeräumt werden sich zu äussern. Dies hat umso mehr für redaktionelle Beiträge von Dritten zu gelten, die ohne vorherige Möglichkeit zur Stellungnahme auch im Verwaltungsverfahren und in der öffentlichen Rechtspflege nicht verwendet werden dürfen. Erst recht trifft das wegen des erschwerten Zugangs für gebührenpflichtige Internetportale zu.

2C_60/2022 (27.12.2022): Bürgerrecht und Ausländerrecht: Widerruf der Niederlassungsbewilligung
Einem spanischen Staatsangehörigen wurde die Niederlassungsbewilligung entzogen, da er aufgrund einer Operation und der damit verbundenen Arbeitsunfähigkeit für einige Monate Sozialhilfe bezog. Gem. Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die ausländische Person dauerhaft und in erheblichem Masse auf Sozialhilfe angewiesen ist (E. 4.1). Nach gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils die konkrete Gefahr der Sozialhilfeabhängigkeit noch andauern (E. 4.5). Im konkreten Fall verhielt es sich aber so, dass der Beschwerdeführer seit acht Monaten keine Sozialhilfe, sondern eine AHV-Rente (aufgrund Frühpensionierung) mit Ergänzungsleistungen bezog (E. 4.7). Gemäss der Rechtsprechung fallen Ergänzungsleistungen zur AHV/IV nicht unter den Begriff der Sozialhilfe. Der Widerrufsgrund der Sozialhilfeabhängigkeit im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG bestand demnach zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils nicht mehr. (E. 4.5). Die Niederlassungsbewilligung durfte nicht entzogen werden.

23.01.2022 – 27.01.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Can Kirmizikaya

5A_425/2020 (15.12.2022): Erbrecht (Erbteilung)
Ausgangspunkt dieses Entscheides war eine im Jahre 2003 (!) eingereichte Erbteilungsklage. Der Sachverhalt präsentiert sich so, dass der Erblasser zu Lebzeiten einen Erbvertrag mit vier der fünf Erbberechtigten abgeschlossen hatte. Geregelt wurde unter anderem die Aufteilung der sich im Nachlass befindlichen Aktiengesellschaft (AG), von welcher der Erblasser Alleinaktionär war. Vereinbart wurde sodann eine auf alle Erbberechtigten gleichmässige Aufteilung des Aktienkapitals. Ausnahmen in der Aufteilung wurden lediglich bezüglich der Stimmrechtsaktien vereinbart (A.a). Strittig waren insbesondere die Zuteilung der Aktien der AG (E.2.), ob der aus ihrer Zuteilung resultierende Mehrwert ausgleichungspflichtig ist (E.3.) und ob die Zuwendungen des Erblassers zu Lebzeiten auszugleichen sind (E.4.). Dabei thematisiert das BGer u.a. den Unterschied zwischen Erbvertrag und letztwillige Verfügung und was für Konsequenzen sich aus dieser Unterscheidung hinsichtlich der Auslegung der fraglichen Textpassagen ergeben (E.3.2.ff.). Das BGer führt aus, dass ein Erbvertrag neben vertraglichen Bestimmungen auch testamentarische Anordnungen aufweisen kann. Ob eine bestimmte, im Erbvertrag enthaltene Klausel, vertraglicher oder einseitiger Natur ist, beurteilt sich danach, ob die Vertragspartei des Erblassers ein erkennbares Interesse an dessen Bindung gehabt hatte (E.3.3.). Des Weiteren behandelte das BGer die Frage, ob Zuwendungen durch die vom Erblasser beherrschte AG an die Erbberechtigten und deren Kollektivgesellschaften im Sinne einer «indirekten Zuwendung» gemäss Art. 626 Abs. 2 ZGB ausgleichungspflichtig sind. Dafür müsste die rechtliche Selbständigkeit der juristischen Personen durchbrochen werden und im Rahmen eines «erbrechtlichen» Durchgriffs ein rechtsmissbräuchliches Handeln des Erblassers bewiesen werden (E.4.3.2.f.). Das BGer kommt jedoch zum Schluss, dass der in Art. 626 Abs. 2 ZGB verankerte Gerechtigkeits- und Gleichbehandlungsgedanke Vorrang geniesse und beim Durchgriff aufgrund indirekter Zuwendungen nicht der « Missbrauch » der rechtlichen Selbständigkeit der vom Erblasser beherrschten juristischen Person im Fokus stehen sollte, sondern die Tatsache, dass der Erblasser seinen Nachkommen einen geldwerten Vorteil unentgeltlich zukommen lässt und damit auch sein eigenes Vermögen schmälert (E.4.4.3.).

1C_759/2021 (19.12.2022): Raumplanung und öffentliches Baurecht (Teiländerung des Gesetzes des Kantons Basel-Stadt vom 5. Juni 2012 über die Wohnraumförderung [WRFG/BS])
Inhalt vorliegender bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist die Gesetzgebungskompetenz der Kantone bezüglich zivilrechtlicher Mietverhältnisse und ab wann ein entsprechendes Gesetz dem öffentlichen oder privaten Recht zuzuordnen ist. Die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Stadt nahmen im November 2021 die Volksinitiative «Ja zum ECHTEN Wohnschutz!» an. Beim Verfahren vor Bundesgericht ging es um den neuen § 8a WRFG/BS, wonach die in Zeiten von Wohnungsnot erforderliche Bewilligung zum Umbau, zur Renovation oder zur Sanierung einer Liegenschaft davon abhängig gemacht wird, ob den aktuellen Mietparteien ein Rückkehrrecht zusteht (E.1.1.2.). Das Bundesgericht gesteht den Kantonen zwar das Recht zu, Massnahmen wie die vorliegende Bewilligungspflicht zur Bekämpfung von Mietknappheit zu treffen. Hingegen sei es den Kantonen nicht gestattet, direkt in die Verträge zwischen Vermieter und Mieter einzugreifen, da das Bundeszivilrecht diese Materie abschliessend regle (E.4.2.2.). Dies sei insbesondere aufgrund des ebenerwähnten «Rückkehrrechts» der Mieterschaft in der neuen kantonalen Bewilligungspraxis fraglich (E.4.4.1.). Um zu beurteilen, ob es sich beim strittigen «Rückkehrrecht» um eine zivilrechtliche oder eine öffentlich-rechtliche Bestimmung handle, verweist das Gericht auf die Interessen-, die Funktions- und die Subordinationstheorie (E.4.4.4.). Besonders mit Hinblick auf die Interessenstheorie stehen mit dem «Rückkehrrecht» vorwiegend die Interessen der privaten Mietparteien im Vordergrund. Es würden keine hinreichenden Beschränkungen aufgestellt werden, welche öffentliche Interessen oder sozialpolitisch Ziele in den Vordergrund treten liessen (E.4.4.5.). Vor diesem Hintergrund hiess das Bundesgericht die Beschwerde teilweise gut und ordnete nur die Aufhebung der Rückkehrbedingung an (E.6.).

09.01.2022 – 23.01.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

5A_790/2021* (07.12.2022): Kollokation (Klagefrist)
Vorliegend ging es um die Frist zur Einreichung der Kollokationsklage nach Art. 250 Abs. 2 SchKG. Fraglich war, ob auf die Kollokationsklage die Gerichtsferien nach Art. 145 ZPO oder Art. 63 SchKG anwendbar sind. Laut Bundesgericht kann der Gerichtsferienregelung der ZPO der Vorrang zukommen, selbst wenn das fristauslösende Ereignis eine Betreibungshandlung darstellt und damit (auch) die Betreibungsferien gelten könnten. Art. 145 Abs. 4 ZPO kommt demnach keine umfassende Ausschlusswirkung gegenüber der Gerichtsferienregelung der ZPO zu (E. 4.2.).

5A_591/2021*, 5A_600/2021* (12.12.2022): Eheschutz
Das Bundesgericht äusserte sich ausführlich zu den Zuständigkeitsregelungen, wenn die Mutter mit dem Kind im Ausland lebt und ein entsprechendes Eheschutzgesuch gestellt wird (E. 2.).

5A_420/2022* (08.12.2022): Eigentum an Quelle
Das Bundesgericht äussert sich fast lehrbuchartig und umfassend zu den Themen Quellen, öffentliche Gewässer sowie Bachquellen und Privatquellen im Sinne von Art. 704 Abs. 1 ZGB.

2C_891/2021* (06.12.2022): Aufenthaltsbewilligung, Familiennachzug
Vorab eine interessante Erwägung zur Sprache vor Bundesgericht. Laut E. 1.5. kann man eine Beschwerde auch in französischer Sprache einreichen, auch wenn das Verfahren auf Deutsch geführt wird. Das Urteil ergeht dann aber auf Deutsch. Streitig war im vorliegenden Fall, ob die Vorinstanz den Familiennachzug zu Recht wegen der konkreten Gefahr einer erheblichen und fortgesetzten Sozialhilfeabhängigkeit verweigert hat. Das Bundesgericht geht in diesem Kontext auf die entsprechenden Voraussetzungen und die Verhältnismässigkeit ein (E. 4.).

19.12.2022 – 08.01.2023

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

5A_60/2022* (05.12.2022): Eheschutzmassnahmen, Ehegattenunterhalt, Dispositionsmaxime
Der Ehegattenunterhalt untersteht der Dispositionsmaxime. Dennoch sei es laut Bundesgericht nicht willkürlich, bei einer Reduktion des Betreuungsunterhalts den Ehegattenunterhalt auch ohne entsprechendes Begehren zu erhöhen.

4A_120/2022* (23.11.2022): Lugano-Übereinkommen, Bürgschaft
Das Bundesgericht hatte für das Lugano-Übereinkommen zu entscheiden, ob der Beschwerdeführerin als begünstigte Dritte die Gerichtsstandsvereinbarung in einem echten Vertrag zugunsten Dritter entgegengehalten werden kann, wenn sie ihre Forderung aus diesem Vertrag an einem anderen Forum einklagt (E. 4.). Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die anwendbare Gerichtsstandklausel Wirkung entfalte. Die bernischen Gerichte sind damit in Bezug auf die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten vertraglichen Ansprüche nicht zuständig und die Vorinstanz ist darauf zu Recht mangels Zuständigkeit nicht eingetreten (E. 4.9.). Weiter ging das Bundesgericht noch auf eine mögliche Haftung aus dem Recht der einfachen Gesellschaft oder aus erwecktem Konzernvertrauen ein, verneinte aber beide Ansprüche (E. 5.). Schliesslich wurde der Bürgschaftsbegriff ausgelegt (E. 7.).

4F_16/2022* (25.11.2022): Schiedsverfahren, Revision
Zwei Parteien einigten sich in einem Schiedsverfahren. Daraufhin setzte der Schiedsrichter die Verfahrenskosten fest. Diese Verfahrenskosten wurden erfolgreich beim Bundesgericht angefochten. Dagegen erhob der Schiedsrichter Revision vor Bundesgericht. Fraglich war die Legitimation des Revisionsgesuchstellers, mithin des Einzelschiedsrichters, der nicht Prozesspartei im Hauptverfahren war, sondern urteilende Instanz (E. 1.2.). Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Befugnis des Einzelschiedsrichters zur Einreichung einer Revision gegen das Urteil des Bundesgerichts vom 3. Mai 2022 zu bejahen ist, soweit damit sein Honorar herabgesetzt wurde und ihm Gerichtskosten auferlegt wurden (E. 1.2.3.).

2C_217/2022* (15.12.2022): Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2006 bis 2009, Flugzeug
Vorliegend ging es um die A AG, die im Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen eingetragen war. Sie war Eigentümerin eines Flugzeugs und es war fraglich, wie mehrwertsteuertechnisch damit umzugehen sei. Es kann einer Gesellschaft unter Vorbehalt besonderer Umstände nicht vorgeworfen werden, dass sie sich missbräuchlich verhalte, indem sie sich im Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen eintragen lasse, wenn das Gesetz die Gesellschaft zur Anmeldung verpflichtet. Freilich kann der Vorwurf der Steuerumgehung in der Regel nicht greifen, solange nicht feststeht, dass die gewählte Gestaltung die subjektive Steuerpflicht der Gesellschaft – sowie die Meldepflicht beim Register – begründet. Ohne subjektive Steuerpflicht kann die Gesellschaft keine Vorsteuern abziehen und keine Steuerersparnis erzielen. In diesem Sinne war auch zu klären, inwiefern Leistungen einer Flugzeug-Eigentümergesellschaft zur privaten Verwendung durch den wirtschaftlich Berechtigten oder nahe stehende Personen als gewerbliche Tätigkeit gelten können, die zum Vorsteuerabzug berechtigt (E. 5.3.).

2C_977/2020* (06.05.2022): Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Thurgau, Quellensteuer, Steuerperiode 2017
Der Beschwerdeführer sah seine Rechte aus dem Freizügigkeitsabkommen verletzt. Das Bundesgericht äusserte sich insbesondere zum Verhältnis zwischen der Quellensteuer und der Besteuerung in der ordentlichen Veranlagung (E. 6.4.).

1C_39/2021* (29.11.2022): Grundrechte, Änderung des Gesetzes über die Kantonspolizei vom 6. Mai 2020
Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde im Zusammenhang mit Änderungen des Solothurner Gesetzes über die Kantonspolizei teilweise gut. Es hebt unter anderem eine Bestimmung zur automatisierten Fahrzeugfahndung auf, die den Datenabgleich mit sämtlichen Personen- und Sachfahndungsregistern ermöglicht hätte. Überdies darf die automatisierte Fahrzeugfahndung nicht angeordnet werden, solange keine ergänzenden Regelungen zu verschiedenen Aspekten des Datenschutzes in Kraft sind.

2C_259/2022* (07.12.2022): Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Aargau, Steuerperiode 2017, Abzug Säule 3a
Der Beschwerdeführer belastete sein Postkonto am 29. Dezember 2017 zugunsten seines Säule 3a-Kontos. Die blosse Abbuchung reicht jedoch nicht aus. Laut Bundesgericht ist es entscheidend, dass der Beitrag im betreffenden Kalenderjahr auf dem Vorsorgekonto des Steuerpflichtigen gutgeschrieben ist. Erst dann kann ein Beitrag ausschliesslich und unwiderruflich der beruflichen Vorsorge des Beschwerdeführers dienen und als tatsächlich geleistet gelten (Eintritt in den Vorsorgekreislauf) (E. 4.1.).

2C_2/2022* (22.11.2022): Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2012-2015
Eine Gemeinde liess ein neues Gemeindehaus errichten. Es war unbestritten, dass die Dienststelle Liegenschaftsverwaltung dieser Gemeinde grundsätzlich nach Art. 28 Abs. 1 MWSTG das Recht darauf hat, Vorsteuern abzuziehen, die im Zusammenhang mit dem Bau und der Vermietung des neuen Gemeindehauses angefallen sind. Streitig war jedoch, ob der Dienststelle Liegenschaftsverwaltung die Mittel für den Bau des Gemeindehauses in der Form einer Subvention oder eines anderen öffentlich-rechtlichen Beitrags gemäss Art. 18 Abs. 2 lit. a MWSTG zugeflossen sind und deshalb der Vorsteuerabzug gemäss Art. 33 Abs. 2 MWSTG verhältnismässig zu kürzen ist. Dazu wurde insbesondere der Subventionsbegriff ausgelegt (E. 3.5). Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Mittel, die der Dienststelle Liegenschaftsverwaltung für den Bau des Gemeindehauses zur Verfügung gestellt worden sind, keine Subventionen und keine öffentlich-rechtlichen Beiträge nach Art. 18 Abs. 2 lit. a MWSTG darstellten (E. 3.7.).

2C_1023/2021* (29.11.2022): Löschung von Kommentaren in Online-Foren und Social-MediaKanälen der SRG: Rechtsweg über Ombudsstelle SRG und UBI
Die Löschung eines Kommentars zu einem redaktionellen Beitrag der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) in einem ihrer Online-Foren oder Social-Media-Kanälen kann rechtlich angefochten werden. Ob im Einzelfall ein unzulässiger Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit der Autorin oder des Autors vorliegt, ist nach vorgängigem Schlichtungsversuch der Ombudsstelle SRG durch die unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) zu prüfen. Die Kommentarfunktion dient dem Meinungsaustausch und der Meinungsbildung rund um den redaktionellen Beitrag. Bietet die SRG ausserhalb ihres Programms solche Foren für Meinungsäusserungen an, muss sie möglichst grundrechtskonform handeln und ihrer Rolle als gesamtschweizerisch konzessionierte Anbieterin im Radio- und Fernsehbereich Rechnung tragen. Mit der Löschung von Kommentaren oder dem individuellen, vorübergehenden oder dauernden Ausschluss von Personen von der Kommentarfunktion greift die SRG in die Meinungsäusserungsfreiheit der Betroffenen ein. Damit muss ein Rechtsweg offen stehen, der den Anforderungen der Bundesverfassung (Artikel 29a BV) genügt. Dies ergibt sich aus der Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 29.11.2022. Die eigentliche Begründung des Urteils liegt noch nicht vor. Interne Anmerkung: Thema des vorliegenden Urteils war anscheinend nur eine Löschung eines Kommentars durch die SRG, womit ein Eingriff in die Meinungsfreiheit durch die SRG bejaht wurde. Es scheint auf den ersten Blick noch nicht klar, was für Auswirkungen dieses Urteil haben wird. So stellt sich die Frage, ob die SRG in ihrer Regulierung der Kommentare nun generell die Meinungsfreiheit beachten muss (was zu befürchten ist) oder ob die SRG generell auf die Kommentarfunktion verzichten kann. Was bereits jetzt feststeht ist, dass dieses Urteil einen fast unhaltbaren Mehraufwand für die SRG und Beschwerdestellen nach sich ziehen wird.
Am 05.01.2022 erschien die Begründung zu diesem Urteil: Das Bundesgericht entschied, dass die SRG im Zusammenhang mit der Kommentarfunktion grundrechtsgebunden ist (E. 2.3.). Mit der Löschung von Kommentaren greif die SRG in die Meinungsfreiheit von Betroffenen ein. Deshalb muss ein genügender Rechtsweg offenstehen (E. 3.1.). Der – vom Gesetzgeber im vorliegenden Problemkreis offenbar privilegierte – zivil-, straf- und aufsichtsrechtliche Rechtsweg, auf den die SRG und die UBI verweisen, genügt den verfassungsrechtlichen Vorgaben von Art. 29a BV nicht (E. 3.2.2.). Nur der Rechtsweg an die UBI als fachkundiges Gericht (und gerichtliche Vorinstanz des Bundesgerichts) ist geeignet, den Vorgaben von Art. 29a BV (bzw. Art. 13 i.V.m. 10 EMRK) zu genügen (E. 3.3.4.).

8C_374/2022, 8C_421/2022* (05.12.2022): Unfallversicherung (vorinstanzliches Verfahren; unentgeltliche Rechtspflege)
Streitig und zu prüfen war, ob das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau Bundesrecht verletzte, indem es das Gesuch des Beschwerdeführers um Bestellung von Rechtsanwältin B als unentgeltliche Rechtsvertreterin für das kantonale Beschwerdeverfahren abwies. Dies mit der Begründung, dass sie nicht im kantonalen Anwaltsregister eingetragen sei. Diese Anwendung von § 81 Abs. 2 VRG/TG verstösst laut Bundesgericht namentlich gegen Art. 29 Abs. 1 und 3 BV sowie gegen Art. 61 lit. f ATSG (E. 7.2.). Die Beschwerde wurde also gutgeheissen und Rechtsanwältin B als unentgeltliche Beiständin eingesetzt.

Nachträge

Zusammengefasst von Paul Stübi

5A_385/2022* (1.09.2022): Schuldbetreibungs- und Konkursrecht / Konkursinventar
Das Kapital aus einem Vorsorgekonto 3a, das dem Konkursschuldner infolge seiner Pensionierung vor Konkurseröffnung ausbezahlt wurde und bereits in einer früheren Betreibung auf Pfändung für beschränkt pfändbar erklärt wurde, fällt nicht in die Konkursmasse.

4A_69/2022* (23.09.2022): Internationale Schiedsgerichtsbarkeit
Das Bundesgericht setzt sich mit den Revisionsvoraussetzungen nach Art. 190a IPRG auseinander. Vorliegend verneint es die Voraussetzungen, insbesondere wegen eines Rechtsmittelverzichts.

4A_407/2021* (13.09.2022): Vertragsrecht / «execution only»-Vertrag / Vornahme von Transaktionen durch einen Bankangestellten ohne Anweisung des Kunden / Erfüllungs- oder Schadenersatzanspruch / Schaden
Wenn ein Bankangestellter ohne Anweisung des Kunden Bankgeschäfte zu dessen Lasten ausführt, steht dem Kunden gegenüber der Bank kein Erfüllungsanspruch (Art. 97 OR), sondern allenfalls ein Schadenersatzanspruch aus Art. 398 Abs. 2 OR i.V.m. Art. 101 OR zu; dies im Gegensatz zum Fall, dass die Bank Einzahlungen oder Überweisungen vom Konto des Kunden an einen Dritten vornimmt, weil sie die fehlende Legitimation des Auftraggebers oder das Vorhandensein einer Fälschung nicht erkennt (E. 4). Anders als bei einer Erfüllungsklage kann sich der Kunde bei einer Haftungsklage nicht damit begnügen, die Rückerstattung der Beträge zu verlangen, die er selbst (oder Dritte) auf sein Konto eingezahlt hat, sondern muss seinen Schaden im Sinne der Differenztheorie nachweisen (E. 5). Weiter kann die Bank bei einer Haftungsklage die Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch ein Mitverschulden des Geschädigten einwenden, was sich vorliegend aber aufgrund der widersprüchlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht beurteilen liess (E. 6).

4A_492/2021* (24.08.2022): Internationale Schiedsgerichtsbarkeit
Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Russischen Föderation gegen ein Schiedsgerichtsurteil im Fall Yukos Capital ab. Unter dem Titel von Art. Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG verwirft es insbesondere die Argumentation, dass die provisorische Anwendung des Vertrags über die Energiecharta innerstaatlichem Recht widerspreche (E. 6), die fraglichen Investitionen vom Abkommen nicht erfasst seien (E. 7) und die Klage rechtsmissbräuchlich sei (E. 8). Ebenfalls keinen Erfolg hat der Einwand, dass das Urteil wegen Zuerkennung eines überkompensatorischen Schadenersatzes gegen den materiellen Ordre public (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG) verstosse (E. 10).

6B_1287/2021* (31.08.2022): StGB / üble Nachrede / Anwalt als Dritter
Der Beschwerdeführer wurde im Zusammenhang mit dem Kauf eines Katamarans wegen übler Nachrede gegen den Beschwerdegegner verurteilt. Er hatte die Äusserungen gegenüber seinem Anwalt gemacht sowie gegenüber zwei Geschäftspartnern. Der Anwalt schrieb nach dem Gespräch mit dem Beschwerdeführer in dessen Namen und auf dessen Rechnung einen Brief an den Beschwerdegegner, in dem er festhielt, dessen Verhalten könnte strafrechtlich relevant sein. Die Äusserungen gegenüber einem Anwalt sind nicht in gleicher Weise zu würdigen wie diejenigen gegenüber einem beliebigen Dritten, und eine Ehrverletzung ist nur mit Zurückhaltung anzunehmen.

6B_1450/2020* (05.06.2022): StGB / Anstiftung / Hehlerei / Konkurrenz
Der Beschuldigte verlangte von Tankstellenangestellten, dass sie in der Tankstelle Zigarettenstangen entwenden und an ihn zu einem günstigen Preis verkaufen sollten. Er verkaufte die Zigarettenstangen zu einem höheren Preis weiter. Der Beschuldigte bestellte gewissermassen Zigarettenstangen, deren Art und Menge er bestimmte, gegen Bezahlung bei den Tankstellenangestellten und machte sich auf diese Weise der Anstiftung zum Diebstahl schuldig. Zwischen der Anstiftung zum Diebstahl und der Hehlerei besteht keine Konkurrenz. Deshalb ist der Beschuldigte allein wegen Anstiftung zum qualifizierten und gewerbsmässig begangenen Diebstahl zu bestrafen und nicht wegen qualifizierter Hehlerei.

6B_820/2021* (02.08.2022): StGB- / Straf- und Massnahmenvollzug / Arbeitsentgelt / Krankenkassenprämie und Krankenkosten
Anlässlich der Verlegung des Beschwerdeführers in eine andere Strafvollzugsanstalt waren dessen Reservekonto ohne seine Zustimmung Fr. 2245.70 entnommen worden, um einen Teil der von der Krankenkasse nicht übernommenen Krankenkosten und den nicht subventionierten Teil der monatlichen Krankenkassenprämie zu decken; ausserdem wurden ihm Verpackungs- und Transportkosten verrechnet. Er macht die Verletzung von Art. 83 Abs. 2 StGB geltend. Die Kantone verfügen in diesem Bereich über ein grosses Ermessen. Die Kosten für Verpackungsmaterial und Transport wurden zu Recht dem frei verfügbaren Konto entnommen, das für Kosten von Schäden, die vom Verurteilten absichtlich verursacht werden, frei verwendet werden konnte. Der Beschwerdeführer hatte die Verlegung durch sein Verhalten notwendig gemacht.

6B_1310/2021* (15.08.2022): StPO / Zivilklage durch Adhäsion / OR
In der Lehre umstritten und vom Bundesgericht bislang noch nicht entschieden ist die Frage, ob der Begriff der Zivilklagen im Sinne von Art. 122 Abs. 1 StPO auch vertragliche Ansprüche umfasst. Nach Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lehrmeinungen, mit der kantonalen Rechtsprechung sowie der wörtlichen, teleologischen und systematischen Auslegung zufolge kommt das Bundesgericht in diesem neuen Grundsatzentscheid zum Schluss, dass nur solche privatrechtlichen Ansprüche, welche sich aus einer Straftat ableiten lassen, vom Begriff der Zivilklagen nach Art. 122 Abs. 1 StPO erfasst werden. Dies ist bei vertraglichen Ansprüchen nicht der Fall, da diese unabhängig von der Begehung einer strafbaren Handlung entstehen und daher ihrem Wesen nach zum Zivilprozess gehören.

2C_804/2021* (14.10.2022): Steuerrecht / Spesenentschädigungen / Fahrtkosten
Ein Genfer Arbeitgeber hat einem in der Waadt wohnhaften Aussendienstmitarbeiter zwischen 2014 und 2016 Pauschalspesen von jährlich Fr. 18 000.– für dienstliche Autofahrten ausgerichtet, dies gestützt auf ein vom Kanton Genf genehmigtes Spesenreglement. Das Waadtländer Kantonsgericht entschied, dass der Mitarbeiter diesen Betrag nicht versteuern musste und daneben auch noch die Kosten seines Arbeitswegs abziehen durfte. Die Steuerverwaltung erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und bringt unter anderem vor, die Pauschalspesen würden in Wahrheit teilweise den Arbeitsweg entschädigen. Sämtliche Einkünfte aus unselbständiger Erwerbstätigkeit unterliegen der Einkommenssteuer (Art. 17 Abs. 1 DBG; Art. 7 Abs. 1 StHG). Entschädigungen des Arbeitgebers für tatsächlich getätigte Auslagen der Arbeitnehmenden sind jedoch keine Einkünfte, da kein Reinvermögenszugang vorliegt. Als Auslagen gelten arbeitsrechtlich (Art. 327a OR) die Fahrtkosten für den «Einsatzweg» vom Arbeitsort zum Ort einer konkreten Auftragserfüllung, nicht aber für den Arbeitsweg zwischen Wohn- und Arbeitsort. An die Stelle einer Entschädigung der effektiv getätigten Auslagen können Pauschalspesen treten, wenn ein von den Steuerbehörden genehmigtes Spesenreglement des Arbeitgebers dies vorsieht. Besteht ein solches Spesenreglement, ist es für die Steuerbehörden (und zwar auch für jene anderer Kantone) verbindlich. Die Pauschalspesen durften daher vorliegend nur als Entschädigung des «Einsatzwegs» betrachtet werden. Folglich konnte der Aussendienstmitarbeiter die Aufwendungen für seinen Arbeitsweg zusätzlich noch als Berufskosten abziehen.

2C_546/2020* (18.08.2022): Wirtschaftsrecht / Finanzmarktrecht / Meldepflicht bei Beteiligungen / Grundrechte / Grundsatz «keine Strafe ohne Gesetz»
Eine Verwalterin von kollektiven Kapitalanlagen und ihre Muttergesellschaft (Beschwerdeführerinnen) erkundigten sich, ob sie Art. 120 FinfraG unterständen, und deshalb melden müssten, wenn die von ihren Anlagefonds gehaltenen Beteiligungsrechte an börsenkotierten Schweizer Gesellschaften bestimmte Grenzwerte erreichen. Die FINMA verfügte, dies sei der Fall. Dies bestätigte das Bundesgericht. Art. 120 FinfraG wurde neu bewusst so formuliert, dass meldepflichtig ist, wer entweder wirtschaftlich berechtigt ist oder die Stimmrechte nach freiem Ermessen ausübt.

2C_872/2021* (02.08.2022): Steuerrecht / Steuerbusse / Grundrechte / ne bis in idem
Die Busse für die Beteiligung an einer Steuerhinterziehung gemäss Art. 177 DBG hat den Charakter einer strafrechtlichen Sanktion im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Grundsatz ne bis in idem findet daher Anwendung. Art. 181 Abs. 3 DBG hält aber ausdrücklich fest, dass, wenn eine juristische Person wegen Steuerhinterziehung verurteilt wird, zusätzlich noch die für sie handelnden Organe oder Vertreter wegen Beteiligung bestraft werden können. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern dieses System das Prinzip ne bis in idem verletzten sollte. Eine AG und ihre Organmitglieder sind unterschiedliche Rechtssubjekte, die verhängten Strafen betreffen unterschiedliche Personen.

2C_605/2021* (04.08.2022): Steuerrecht / Grundstücksbewertung / Eigenmietwert
Der Grosse Rat des Kantons Tessin beschloss 2021 die Bestimmungen seines Steuergesetzes über den Eigenmietwert um eine «Härtefallklausel» (Art. 20 Abs. 4 LT/TI) zu ergänzen. Gemäss dieser darf der Eigenmietwert bei Steuerpflichtigen mit einem steuerbaren Vermögen von weniger als Fr. 500 000.– höchstens 30% der «laufenden Einnahmen» betragen. Es geht namentlich um die Gleichbehandlung von Wohneigentümern und Mietenden (BGE 143 I 137). Das Bundesgericht hat in ständiger Rechtsprechung festgehalten, dass kein Grundstück zu weniger als 60% des Marktwerts bewertet werden darf. Die angefochtene Bestimmung verletzt diese Rechtsprechung: Art. 8 Abs. 1 und Art. 127 Abs. 2 BV verlangen, dass der Eigenmietwert anhand des Marktwerts ermittelt wird und nicht anhand irgendeines anderen Kriteriums wie etwa der «laufenden Einnahmen». Hinzu kommt, dass die vorgesehene Ermässigung auch dann gelten würde, wenn ihretwegen der Eigenmietwert eines Grundstücks unter die 60%-Grenze fallen würde.

8C_716/2021* (12.10.2022): UVG / Invalidenrente / Invalideneinkommen
Da der Beschwerdegegner hauptsächlich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters keine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, liegt somit eindeutig ein Anwendungsfall von Art. 28 Abs. 4 UVV vor. Das Bundesgericht hat noch nicht entschieden, ob im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung das fortgeschrittene Alter ein Kürzungskriterium darstellt oder ob der Einfluss des Alters auf die Erwerbsfähigkeit nur im Rahmen der Sonderregelung des Art. 28 Abs. 4 UVV zu berücksichtigen ist. Gemäss der bundesrätlichen Botschaft sollen die Kürzungsregeln von Art. 20 Abs. 2ter UVG zusätzlich zum Korrektiv in Art. 28 Abs. 4 UVV gelten. Ein Abzug aufgrund des fortgeschrittenen Alters eines Versicherten kann nicht in Betracht gezogen werden, wenn es sich um einen Anwendungsfall von Art. 28 Abs. 4 UVV handelt. Der vorinstanzlich vorgenommene Abzug von 10% aufgrund des Alters und der funktionellen Einschränkungen kann daher nicht bestätigt werden.