Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen.

26.08.2024 – 30.08.2024

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Laura Ambühl

4A_621/2023 * (06.08.2024) Definitive Rechtsöffnung

Nach Art. 1 Abs. 2 lit. d LugÜ ist die Schiedsgerichtsbarkeit vom sachlichen Anwendungsbereich des LugÜ ausgenommen. Entscheidet hingegen ein vertragsstaatliches Gericht ungeachtet des Bestehens einer Schiedsvereinbarung in der Sache selbst, gelangt der Ausschluss der Schiedsgerichtsbarkeit gem. Art. 1 Abs. 2 lit. d LugÜ nicht zur Anwendung (E. 5.3; BGE 127 III 186 E. 2). Die Anerkennungsversagung gem. Art. 34 Ziff. 3 LugÜ setzt voraus, dass die ausländische Entscheidung entweder denselben Streitgegenstand abweichend entscheidet oder aber auf Prämissen aufbaut, die mit der materiellen Rechtskraft oder Gestaltungswirkung des inländischen Urteils unvereinbar sind (E 6.3). Hat sich das vereinbarte Schiedsgericht mit Sitz im Ausland in Ausübung seiner Kompetenz als unzuständig erklärt und werden die dafür vorgesehenen Rechtsbehelfe nicht ergriffen, d.h. wird der Schiedsspruch in der Schweiz anerkannt, so sind die staatlichen Gerichte in der Schweiz an diesen Schiedsspruch gebunden und nicht an den negativen Zuständigkeitsentscheid eines anderen staatlichen Gerichts, das sich aufgrund der aus seiner Sicht wirksamen Schiedsvereinbarung für unzuständig erklärt hat (E. 6.4.2).

5A_691/2023 * (13.08.2024) Erbteilung / Herabsetzung (zeitliche Gültigkeit der Klagebewilligung)

Das Bundesgericht hatte sich mit der Frage der Berechnung von Monatsfristen zu befassen. Umstritten war die Auslegung der Absätze 1 und 2 von Art. 142 ZPO. Es stellte sich die Frage, ob die beiden Absätze kombiniert oder isoliert zu betrachten sind (E. 5.4). Das Bundesgericht machte einerseits Ausführungen zur Lehre (E. 5.4.1 f.), anderseits nahm es eine Auslegung von Art. 142 Abs. 2 ZPO vor (E. 5.5). Als Ergebnis der Auslegung von Art. 142 Abs. 1 und 2 ZPO ist festzuhalten, dass Art. 142 Abs. 2 ZPO in dem Sinne auszulegen ist, als der «Tag, an dem die Frist zu laufen begann», sich nicht nach Art. 142 Abs. 1 ZPO richtet, sondern sich auf den Tag des fristauslösenden Ereignisses bezieht (E. 5.6). Als fristauslösendes Ereignis gilt die Zustellung der Klagebewilligung (E. 5.6; 4.5). Diese Praxis entspricht sowohl dem Europäischen Fristenübereinkommen (E. 4.3.1.2) als auch der Berechnung einer prozessualen Monatsfrist im Verwaltungs- und Strafrecht (E. 5.5.4.1.2).

5A_336/2023 * (17.07.2024) Ehescheidung

Art. 124e ZGB regelt auch die Fälle, in denen während der Ehe eine Bar- oder Kapitalauszahlung oder ein WEF-Vorbezug stattgefunden hat (E. 4.3.1). Für die Teilung der BVG-Altersrente nach Art. 124e ZGB ist auf den Zeitpunkt der Rechtskraft des Scheidungspunkts abzustellen (E. 4.3.5). Aus dem Umstand, dass WEF-Vorbezüge mit Eintritt des Vorsorgefalles aus dem System der beruflichen Vorsorge ausscheiden, lässt sich nicht folgern, dass dem anderen Ehegatten keine Entschädigung, für die nicht mehr vorhandene Austrittsleistung zu gewähren wäre. Vielmehr lässt sich aus Art. 124e ZGB folgern, dass der Ehegatte des Vorsorgenehmers Anspruch auf eine Entschädigung hat, wenn ein Ausgleich aus der beruflichen Vorsorge nicht möglich ist (E. 4.4.1; BGE 127 III 433 E. 2b).

1C_12/2024, 1C_13/2024 * (01.07.2024) Baubewilligung

Das Bundesgericht hält fest, dass Nachbarn als Beschwerdeführer die Überprüfung des Bauvorhabens im Lichte all jener Rechtssätze verlangen können, die sich rechtlich oder praktisch in dem Sinne auf ihre Stellung auswirken, dass ihnen im Falle des Obsiegens ein praktischer Nutzen erwächst (E. 2.1; BGE 141 II 50 E. 2.1). Baubehörden sind an das Koordinationsgebot gem. Art. 25a RPG gebunden. Nachgelagerte Verfahren sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur dann zulässig, wenn dies sachlich sinnvoll erscheint und sich daraus keine wesentlichen neuen Auswirkungen oder Änderungen für das Projekt ergeben oder ergeben können. Sind vor Baubeginn noch Teilaspekte der Baute zu genehmigen, liegt eine suspensiv bedingt erteilte Baubewilligung vor. Soweit der Baubehörde bei der Beurteilung der Erfüllung der Bedingung ein Entscheidungsspielraum verbleibt, gilt das Baubewilligungsverfahren als noch nicht abgeschlossen (E. 2.2.2). Wird von einem (noch) nicht abgeschlossenen Baubewilligungsverfahren ausgegangen, tritt das Bundesgericht auf die Beschwerde nicht ein, wenn die Voraussetzungen von Art. 92 f. BGG nicht erfüllt sind (E. 2.6). In casu schlossen die angefochtenen Urteile das Baubewilligungsverfahren nicht ab, da einerseits die Rechtswirksamkeit der Baubewilligung gehemmt wurde und andererseits noch nicht alle relevanten Pläne definitiv genehmigt worden sind (E. 2.7.1). Es lag somit ein Zwischenentscheid vor, der die Voraussetzungen der selbständigen Anfechtbarkeit nicht erfüllte (E. 2.7.2 f.).

 

05.08.2024 – 09.08.2024

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Janice Kowalski

2C_512/2023 * (05.06.2024):  Submission; Strassenbauarbeiten (Vierspurausbau Hardwald)

Das Bundesgericht stellt klar, dass im Kontext von Submissionsverfahren die Beschwerdefrist ab der individuellen Zustellung der Verfügung beginnt, nicht erst ab der späteren Publikation in einer öffentlichen Plattform wie SIMAP (E. 3.5.3). Das Bundesgericht bestätigte die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass die Beschwerdefrist mit der individuellen Zustellung der Verfügung zu laufen begann und nicht erst mit der späteren Publikation auf SIMAP (E. 3.4 und 3.5). Die individuelle Zustellung hat Vorrang vor der Publikation, und das Bundesgericht wies darauf hin, dass die Beschwerdeführerinnen als erfahrene Bauunternehmen mit dieser Regelung vertraut sein sollten (E. 3.5.2). Eine Verletzung des Vertrauensschutzes wurde verneint, da die Aussagen des Projektleiters bezüglich juristischer Fragen nicht als verbindlich betrachtet werden konnten (E. 5.2).

Im vorliegenden Entscheid war strittig, ob die im Kanton Thurgau gelegenen Grundstücke der Beschwerdeführer im Kanton Zürich mit dem Ertragswert oder dem Verkehrswert zu erfassen sind (E. 3). Das Bundesgericht bestätigte, dass die Zürcher Steuerbehörden zu Recht den vom Kanton Thurgau festgelegten Verkehrswert übernommen haben, um eine einheitliche Bewertung zu gewährleisten und so eine vollständige Berücksichtigung der Schulden sicherzustellen. Diese Praxis dient der Vermeidung interkantonaler Doppelbesteuerung und stellt sicher, dass die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgt (E. 6.2). Das Gericht wies zudem darauf hin, dass das Schlechterstellungsverbot (Art. 127 Abs. 3 BV) nicht verletzt sei, da ‘raison objective’ für die unterschiedliche Behandlung von Steuerpflichtigen bestehen (E. 7.1.2). Zudem sei die Rechtsgleichheit (Art. 8 Abs. 1 BV) nicht verletzt, da die Beschwerdeführer im Gegensatz zu Steuerpflichtigen mit Grundstücken im Kanton Zürich nicht mit einer ergänzenden Vermögenssteuer belastet werden können (E.7.2.2). Auch das Legalitätsprinzip ist nicht verletzt, da die Zürcher Behörden auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage gehandelt hätten (E.7.3).

Vorliegend stellte das Bundesgericht fest, dass es sich bei der Anordnung einer Fahreignungsuntersuchung nach Art. 15d Abs. 1 SVG um eine vorsorgliche Massnahme im Sinne von Art. 98 BGG handelt. Dies rechtfertigt sich insbesondere, weil die auf Grundlage von Art. 15d SVG angeordneten Abklärungen im Hinblick auf den Entscheid über einen allfälligen Sicherheitsentzug erfolgen, wobei dieser ebenfalls unter Art. 98 BGG fällt (E. 2.2). Da es sich dabei um einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte handelt, wäre es nicht gerechtfertigt, wenn beim milderen Eingriff (Fahreignungsuntersuchung) mehr Beschwerdegründe zulässig wären (E. 2.5). Für die Anordnung einer Fahreignungsuntersuchung genügen hinreichende Anhaltspunkte, welche die Fahreignung in Frage stellen (E. 4.1). Das Bundesgericht bestätigte schliesslich, dass auch andere Umstände wie bspw. körperliche und psychische Erkrankungen ohne entsprechende Meldung eines Arztes Zweifel an der Fahreignung begründen können (E. 4.4).

29.07.2024 – 02.08.2024

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Deborah Kaderli

5A_801/2022* (10.05.2024): Ehescheidung

Das Bundesgericht bestätigte, dass die Beitragspflicht grundsätzlich im Zeitpunkt des Eintritts der formellen Rechtskraft des Scheidungsurteils beginnt und ein Abweichen davon nur bei besonderen Umständen gerechtfertigt ist (E. 3.2.1 f.). Ein hypothetisches Einkommen wird dann angerechnet, wenn eine Tätigkeit zumutbar und möglich ist. Während die Frage, welche Tätigkeit zumutbar ist, eine Rechtsfrage bildet, stellt die Frage nach der Möglichkeit der als zumutbar erkannten Tätigkeit eine Tatfrage dar. Es besteht allerdings der Grundsatz, dass wenn die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit möglich ist, dies auch als zumutbar gilt (E. 4.1). Vorliegend hat die Vorinstanz nicht willkürlich entschieden, wenn sie der Beschwerdeführerin eine hypothetische Erwerbstätigkeit von 80% angerechnet hat (E. 4.3.4). Da die Beschwerdeführerin bereits seit dem vorsorglichen Massnahmenentscheid wusste, dass das Schulstufenmodell bei ihr Anwendung findet, lässt sich eine kurze Übergangsfrist rechtfertigen (E. 4.4.2). Zuletzt hielt das Bundesgericht fest, dass eine zeitliche Begrenzung des nachehelichen Unterhaltes auch bei einer lebensprägenden Ehe möglich ist (E. 5.4.2).

22.07.2024 – 26.07.2024

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Laura Ambühl

8C_823/2023 * (08.07.2024) Invalidenversicherung (Invalidenrente)

Grundsätzlich kann ein IV-Rentenanspruch erst nach Beendigung der Eingliederungsmassnahme entstehen. Anders verhält es sich bei Massnahmen, welche eruieren sollen, ob der Versicherte überhaupt eingliederungsfähig ist und diese eine Eingliederungsfähigkeit verneinen; diesfalls kann eine Rente rückwirkend ausgesprochen werden (E. 5.2.2). Das Bundesgericht hatte im Rahmen seiner Normprüfungsbefugnis zu überprüfen, ob sich der Bundesrat beim Erlass von Art. 26bis Abs. 3 IVV an die Grenzen, der ihm im Gesetz, d.h. von Art. 28a Abs. 1 Satz 2 IVG eingeräumten Befugnisse, gehalten hat (E. 9.1). Das Bundesgericht kam nach Auslegung von Art. 28a Abs. 1 Satz 2 IVG zum Schluss, dass der in Art. 26bis Abs. 3 IVV festgelegte Abzug vom Tabellenlohn vor Bundesrecht nicht standhält (E. 10.6). Insbesondere der Beizug der Gesetzesmaterialien zeigt, dass im Wesentlichen die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts übernommen werde und der Invaliditätsgrad grundsätzlich unverändert zu dieser Rechtsprechung ermittelt werden solle (E. 9.4.1). Mangels verfügbarer Alternativen ist bezüglich der zu berücksichtigenden Faktoren und deren Gewichtung auf die bisherige Rechtsprechungsgrundsätze zurückzugreifen (vgl. BGer 8C_182/2023). Dadurch lässt sich der Art. 26bis Abs. 3 IVV in der bis Ende 2023 in Kraft stehender Fassung gesetzeskonform anwenden (E. 10.6).

7B_1024/2023 * (26.06.2024) Einstellungsverfügung

Privatkläger haben vor Bundesgericht darzulegen, aus welchen Gründen sich der angefochtene Entscheid auf welche Zivilforderung auswirken kann. Genügt die Beschwerde den strengen Anforderungen nicht, kann auf sie nur eingetreten werden, wenn aufgrund der Natur der untersuchten Straftat ohne Weiteres ersichtlich ist, um welche Zivilforderungen es geht (E. 2.1). Ausnahme hiervon bildet die Star-Praxis, wonach ungeachtet einer fehlenden Legitimation die Verletzung von Verfahrensrechten gerügt werden kann, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt (E. 2.3). Das Bundesgericht führte weiter aus, dass gemäss ZGB die Persönlichkeit mit dem Leben nach der vollendeten Geburt beginnt und entsprechend das von Art. 118 StGB geschützte ungeborene Leben de lege lata keine Persönlichkeit im Rechtssinne aufweist. Das ungeborene Leben ist keine geschädigte Person resp. kein Opfer im strafrechtlichen Sinne, weshalb der Privatkläger nicht als Angehöriger i.S.v. Art. 116 Abs. 2 StPO gelten kann (E. 3.3.3 f.).

15.07.2024 – 19.07.2024

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Stéphanie Herren

1C_416/2022* (21.03.2024): Gesuch um Aufbruchbewilligung (Fernmeldegesetz)

Die Betreiberin eines Festnetzes für Telekommunikation ersuchte die zuständige Gemeinde, ihr für die Errichtung einer zusätzlichen Verbindungsleitung für Telekommunikation ausserhalb der Bauzone eine Bewilligung gemäss Art. 35 Fernmeldegesetz (FMG) zu erteilen. Die Gemeinde wies das Gesuch ab und verlangte zusätzlich ein ordentliches Baubewilligungsverfahren. Das Bundesgericht stellte fest, dass zusätzlich zur Bewilligung nach Art. 35 FMG eine kantonale Baubewilligung erforderlich ist (E. 3.8). Dies führt nicht zu übermässigen Verzögerungen des Ausbaus des bestehenden Leitungsnetzes, da aufgrund von Art. 29 Abs. 2 BV eine zügige Behandlung der Gesuche erwartet werden kann und Verzögerungen durch Rechtsmittelverfahren betreffend Bewilligungen gemäss Art. 35 FMG ohnehin nicht ausgeschlossen werden könnten (E. 4.3).

1C_99/2023* (04.06.2024): Nationalstrassen; Plangenehmigung Ausführungsprojekt Halbanschluss Altdorf

Für das «kantonale Strassenbauprojekt WOV» und das Ausführungsprojekt « N02 Halbanschluss Altdorf » wurde je ein separates Genehmigungsverfahren durchgeführt, was das Bundesgericht als richtig erachtete (E. 2.2.2). Das Bundesgericht beanstandete indes, dass die Auswirkungen des jeweiligen Teilprojekts, insbesondere die Lärm- und Luftschadstoffemissionen, lediglich in den (separat geführten) Plangenehmigungsverfahren berücksichtigt wurden und keine Beurteilung der Auswirkungen insgesamt erfolgte, da es sich bei den beiden Projekten lärmschutzrechtlich um eine (Gesamt-) Anlage gemäss Ar. 25 USG handelt (E. 2.5.3). Weiter ist die Prüfung der Verhältnismässigkeit der Erhöhung der bestehenden Lärmschutzwand als Massnahme zur Begrenzung der Lärmimissionen sowie einer zusätzlichen Messstation, einer Dosieranlage und einer dynamischen Signalisation der erlaubten Höchstgeschwindigkeit als Massnahme zur Begrenzung der Luftschadstoffe unter Bestimmung der anfallenden Kosten und Nutzen der entsprechenden Massnahmen nachzuholen (E. 5.3. und 6.2).

5A_146/2024* (03.07.2024): Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung (Art. 192 SchKG i.V.m. Art. 725b Abs. 3 OR und Art. 729c OR)

Die Revisionsstelle einer Aktiengesellschaft stellte bei der ordentlichen Prüfung eine drohende Überschuldung fest und setzte der Aktiengesellschaft eine Frist von 30 Tagen, innert welcher sie der Revisionsstelle geplante Sanierungsmassnahmen mitteilen soll. Die Aktiengesellschaft teilte der Revisionsstelle innert Frist weder Sanierungsmassnahmen mit noch legte sie Rangrücktritte vor, worauf die Revisionsstelle dem Gericht die Überschuldung anzeigte. Dieses eröffnete den Konkurs über die Aktiengesellschaft. Das Bundesgericht erwog, dass selbst bei Berücksichtigung von Darlehen mit Rangrücktritt und trotz fehlender Zwischenbilanz (per Ende Juni 2023) die Vorinstanz von einer (offensichtlichen) Überschuldung ausgehen konnte (E. 6.4.3).

2C_125/2023* (21.05.2024): Waffenrecht; Verwertung und Vernichtung von Waffen

Fraglich war vorliegend, ob nach Art. 69 StGB eingezogenes (und zur Vernichtung bestimmtes) Kriegsmaterial dem rechtskräftig Verurteilten nachträglich herausgegeben werden konnte. Das Bundesgericht entschied, dass die Verhältnismässigkeit der Herausgabe der Gegenstände bereits Thema des Strafverfahrens war bzw. hätte sein müssen (E. 4.7). Der Verurteilte kann entsprechend im nachgelagerten Verwaltungsverfahren nicht mehr auf Aspekte zurückkommen, die rechtskräftig durch die Staatsanwaltschaft beurteilt wurden, sondern war nach Treu und Glauben verpflichtet, seinen Standpunkt bereits im Strafverfahren geltend zu machen.

8C_485/2023* (19.06.2024): Unfallversicherung

Im vorliegenden Bundesgerichtsurteil ging es um den Fall einer zu 75% selbständigen Landwirtin, welche in einem Pensum von 25% (8.5 Wochenstunden) zusätzlich als Köchin tätig war und während ihrer Arbeit als Landwirtin einen Unfall erlitt. Für die Tätigkeit als Köchin bestand eine obligatorische Unfallversicherung, für die Tätigkeit als Landwirtin bestand keine freiwillige Versicherung. Die Unfallversicherung verweigerte die Übernahme der Behandlungskosten. Die Vorinstanz erwog, es handle sich dabei um einen nicht bei der Unfallversicherung versicherten Berufsunfall im Sinne von Art. 7 UVG. Das Bundesgericht hielt fest, dass sich vorliegend die Nichtberufsunfallversicherungsdeckung auch auf Unfälle einer obligatorisch UVG-versicherten teilzeitlich angestellten Person in ihrer nicht freiwillig versicherten selbstständigen Erwerbstätigkeit erstreckt (E. 7.5).

9C_664/2023* (24.06.2024): Krankenversicherung

Eine Walk-in-Praxis mit fest angestellten und fix besoldeten Ärztinnen und Ärzten hat gegenüber der Helsana Versicherungen AG die Dringlichkeits-Inkonvenienzpauschalen F, die Notfall-Inkonvenienzpauschalen A und B sowie den Prozentzuschlag für Notfall B (TARMED-Tarifpositionen 00.2505, 00.2510, 00.2520 und 00.2530) abgerechnet. Die Helsana Versicherungen AG klagte daraufhin auf Rückforderung der zu viel abgerechneten Pauschalen. Gemäss den entsprechenden Interpretationen in der Tarifstruktur TARMED Version 1.09 dürfen die Notfall-Inkonvenienzpauschalen A und B sowie der Prozentzuschlag für Notfall B (TARMED-Tarifpositionen 00.2510, 00.2520 und 00.2530) nur von nicht vom Spital oder Institut fix besoldeten Fachärzten abgerechnet werden (E. 4.2). Die Walk-in-Praxis im vorliegenden Fall hat das Bundesgericht als Institut betrachtet, wonach deren fix besoldete Ärztinnen und Ärzte nicht zur Abrechnung dieser Tarifpositionen berechtigt waren (E.4.3.5). Letztlich hält das Bundesgericht fest, dass der Rückforderungsanspruch weder relativ noch absolut verjährt ist (E. 5.4).

08.07.2024 – 12.07.2024

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Janice Kowalski

2C_172/2024* (27.05.2024): Gesuch um Bestätigung der Nichtanwendung der medizinethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW

Aufgrund der in Art. 40 lit. c MedBG verankerten Pflicht, haben Ärztinnen und Ärzte die Rechte der Patientinnen und Patienten zu wahren. Anordnungen der kantonalen Aufsichtsbehörde (vgl. Art. 41 Abs. 2 Satz 1 MedBG) können sich auch auf die Rechtsfolgen einer bestimmten Ausübung des aus Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 8 Ziff. 1 EMRK fliessenden Rechts der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung im privatrechtlichen Behandlungsverhältnis beziehen. Ärztinnen und Ärzte nehmen im Rahmen privatrechtlicher Behandlungsverhältnisse zwar keine staatlichen Aufgaben wahr; sie agieren hier aber dennoch von Gesetzes wegen teilweise grundrechtsgebunden (E. 7.2). Unbestritten ist dabei, dass allfällige künftige (Disziplinar-) Rechtsverhältnisse zwischen dem Gesundheitsamt und den behandelnden Ärzten bzw. Ärztinnen materiell dem Bundesrecht unterstehen. Art. 40 MedBG regelt die Berufspflichten von Personen, die in eigener fachlicher Verantwortung einen universitären Medizinalberuf ausüben abschliessend. Die in Art. 18 der Standesordnung der FMH (Verbindung der Schweizerischen Ärztinnen und Ärzte) für anwendbar erklärten SAMW-Richtlinien sind für alle FMH-Mitglieder verbindlich und dienen darüber hinaus im Kontext der Anwendung von Art. 40 MedBG als Auslegungshilfe (E. 8.3). Die FMH als solche ist nicht Adressatin der in Art. 41 MedBG verankerten Berufspflichten (8.4.3).

6B_92/2022* (05.06.2024): Grobe Verletzung der Verkehrsregeln; Verwertbarkeit von Beweismitteln

Das Bundesgericht befasste sich im vorliegenden Urteil mit der Verwertbarkeit von Beweismitteln und nahm eine Anpassung seiner Rechtsprechung vor. Eine spätere Einräumung des Teilnahmerechts bzw. Gewährleistung der Konfrontation durch Wiederholung einer (unverwertbaren) Einvernahme führt nicht zur Verwertbarkeit gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO (E. 1.6.7.4). Der dem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt war ein (illegaler) Beschleunigungswettbewerb unter zwei Mitbeschuldigten, welcher von einem dritten Mitbeschuldigten auf seinem Mobiltelefon aufgezeichnet wurde. Die Verurteilung des Beschuldigten im vorliegenden Fall erfolgte aufgrund der Videoaufnahme und der angenommenen Einwilligung in die Aufnahme aufgrund der Aussagen der Mitbeschuldigten, welche diese in Abwesenheit des Beschuldigten tätigten. Das Bundesgericht entschied, dass die Aussagen der Mitbeschuldigten nicht zum Nachteil des Beschuldigten verwendet werden dürfen (E. 1.6.8).

6B_1037/2023* (05.06.2024): Versuchte schwere Körperverletzung, Unterlassung der Nothilfe; Willkür, rechtliches Gehör etc.

Vorliegend in Frage standen Aufzeichnungen einer Automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV), welche sich nicht in den Verfahrensakten befanden und von der Vorinstanz dennoch verwertet wurden. Die Vorinstanz begründete dies damit, dass es sich bei der versuchten schweren Körperverletzung um eine schwere Straftat i.S.v. Art. 141 Abs. 2 StPO handle und das öffentliche Interesse an der Aufklärung der versuchten schweren Körperverletzung und qualifizierten Führerflucht höher gewichtet werde als dasjenige des Beschwerdeführers an der Unverwertbarkeit. Das Bundesgericht schützte diese Ansicht (E. 2.4). Weiter prüfte das Bundesgericht, ob durch die Unterlassung der Nothilfe die Gefahr eines Erfolgseintritts geschaffen wurde, der über den mit der versuchten schweren Körperverletzung in Kauf genommenen Verletzungserfolg hinausgeht. Es kam zum Schluss, dass der im Versuch geäusserte Wille zur schweren Körperverletzung den Willen zur Unterlassung der Nothilfe miteinschliesst und beurteilte die Unterlassung der Nothilfe – anders als die Vorinstanz – als mitbestrafte Nachtat zur versuchten schweren Körperverletzung (E. 4.3.3).

9C_37/2023* (11.06.2024): Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Graubünden und direkte Bundessteuer, Steuerperioden 2009-2011

Vorliegend stellte das Bundesgericht klar, dass Steuern bei der Ermittlung der Vollkosten zu berücksichtigen sind. In Bezug auf die Bemessung der Eigenkapitalverzinsung verwarf das Bundesgericht die vorinstanzliche Position, wonach diese gestützt auf die Verordnung über den steuerlichen Abzug auf Eigenfinanzierung juristischer Personen (VAEFjP) zum Abzug für Eigenfinanzierung vorzunehmen sei, zumal dabei nur das Sicherheitseigenkapital berücksichtigt werde und die Verzinsung nicht adäquat sei (E. 3.5.1; 3.5.2). So ist vorliegend der Veranlagungsbehörde zu folgen, womit das gesamte Eigenkapital zu berücksichtigen und mit einem Eigenkapitalzinssatz von 5% zu verzinsen ist. Bezüglich des von der Veranlagungsbehörde und dem Verwaltungsgericht angewandten Kostenzuschlags von 10% bestätigte das Bundesgericht, dass bei «breiter Kostenbasis» ein «(eher) geringer Kostenaufschlag» am Platz sei und setzte diesen vorliegend auf 5% fest (E. 3.6.3).

9F_18/2023 * (19.06.2024): Invalidenversicherung (Revision)

Das Bundesgericht bestätigte seine bisherige Praxis der Revision gemäss Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG (E. 5.5). Nach der zum analogen Art. 137 lit. b OG ergangenen, gemäss BGE 134 III 45 weiterhin geltenden Rechtsprechung sind «neue» Tatsachen solche, die sich bis zum Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren (unechte Noven). Die Geltendmachung echter Noven ist im Revisionsverfahren ausgeschlossen. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, d.h., sie müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage des angefochtenen Urteils zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer anderen Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil der gesuchstellenden Person unbewiesen geblieben sind. Erheblich ist ein Beweismittel, wenn anzunehmen ist, es hätte zu einem anderen Urteil geführt, falls das Gericht im Hauptverfahren davon Kenntnis gehabt hätte. Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der Sachverhaltswürdigung sondern der Sachverhaltsermittlung dient (E. 4.1).

01.07.2024 – 05.07.2024

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Deborah Kaderli

1C.539/2022* (23.05.2024): Führerausweisentzug

Die Pflicht, Markierungen und Weisungen der Polizei zu befolgen, gilt unabhängig davon, ob diese gesetzeskonform sind. Die Grenze dieser Pflicht zur Befolgung findet sich bei nichtigen Anordnungen (BGE 128 IV 184), wobei nicht formgültig publizierte Verkehrsvorschriften nicht nichtig sind (E. 5.1 f.). Für die Beachtungspflicht keine Rolle spielt, ob eine konkrete Gefährdung geschaffen wird (E. 5.5). Für eine schwere Widerhandlung gemäss Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG müssen kumulativ eine qualifizierte objektive Gefährdung und ein qualifiziertes Verschulden vorliegen. Das Bundesgericht hat für Geschwindigkeitsübertretungen präzise Regeln aufgestellt, die unabhängig von den konkreten Umständen automatisch einen objektiv schweren Fall begründen (E. 6.1). Vorliegend war die Regel erfüllt, weshalb die Vorinstanz zu Recht von einem objektiv schweren Fall ausging (E. 6.2).

8C_741/2023* (14.06.2024): Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung)

Fraglich war, ob eine Kumulation einer Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung mit derjenigen der Invalidenversicherung, namentlich mit der Hilflosigkeit bei Bedarf an lebenspraktischer Begleitung, mit Blick auf die Koordinationsregel nach Art. 66 Abs. 3 ATSG zulässig ist. Unbestritten ist, dass die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung insofern weiter gefasst ist als diejenige der Unfallversicherung, als sie eine Hilflosigkeit auch bei Bedarf einer lebenspraktischen Begleitung kennt (E. 5). Vorliegend stellte das Bundesgericht fest, dass – unabhängig ob die Voraussetzungen der lebenspraktischen Begleitung erfüllt sind – kein Raum für eine zusätzliche Entschädigung besteht, wenn die Person als im schweren Grad hilflos gilt (E. 6.2 f). Entsprechend war eine Kumulation vorliegend nicht möglich, wobei das Bundesgericht die Frage offenliess, wie es sich bei einer Hilflosenentschädigung bei leichter oder mittlerer Hilflosigkeit verhalten würde (E. 6.4).

2C_179/2023* (04.06.2024): Kostenverlegung

Vorab prüfte das Bundesgericht die Eintretensvoraussetzungen und hielt zunächst fest, dass Kostenregelungen eines Rückweisungsentscheids grundsätzlich nicht separat anfechtbar sind, da diese nicht losgelöst vom Hauptpunkt entschieden werden können (E. 1.1.3). Vorliegend wurden die Kosten allerdings dem Vertreter einer Partei auferlegt, womit erst die Kostenregelung ihm gegenüber ein Rechtsverhältnis begründete (E. 1.1.4). Somit stellte das Bundesgericht fest, dass es sich hier ausnahmsweise um einen selbständig anfechtbaren Endentscheid handelt (E. 1.1.5). Weiter stellte das Bundesgericht fest, dass das rechtliche Gehör verletzt wurde, indem die Vorinstanz einen «Überraschungsentscheid» erliess, mit welchem der Beschwerdeführer aufgrund des Ausnahmecharakters der angewendeten Kostenregelung nicht hat rechnen müssen (E. 4.3.1 f.). Zudem bestehen tatsächliche Unklarheiten bezüglich des dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Fehlverhaltens (E. 4.3.3).

 1C_615/2021* (15.03.2024): Verkehrsbeschränkung, Tempo-30-Zonen

Das Bundesgericht stellte zunächst fest, dass Rechtsvorschriften, die zur Durchsetzung erheblicher öffentlicher Interessen erlassen worden sind, zwingend anzuwenden sind, auch wenn sie erst im Laufe eines Rechtsmittelverfahrens in Kraft treten (E. 3.3.2). Zunächst sei nach neuem Recht die Frage zu klären, ob es sich bei der Strasse um eine verkehrsorientierte Strasse handelt oder nicht. Je nach Antwort dieser Frage ist ein Gutachten für die Herauf- oder Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit notwendig (E. 5.1). Vorliegend konnte das Bundesgericht die Frage, ob es sich um eine verkehrsorientierte Strasse handelt oder nicht allerdings offenlassen, da das Gutachten basierend auf der bisherigen Rechtslage eingeholt wurde und dieses den Anforderungen genügt (E. 5.2 und E. 7.2 ff.).