Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen.
25.03.2024 – 29.03.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
1C_641/2022* (22.02.2024): Motion Nr. 2021/7 « Mehr Transparenz – aber mit Augenmass« und Volksinitiative « zur Umsetzung der vom Stimmvolk angenommenen Transparenzinitiative »
Im Februar 2020 hiess die Schaffhauser Stimmbevölkerung die «Transparenzinitiative» gut. Anstatt die Umsetzung plante der Kantonsrat mit der Motion Nr. 2021/7 der FDP «Mehr Transparenz – aber mit Augenmass» eine Abschwächung, woraufhin die «Umsetzungsinitiative» lanciert wurde. Das Bundesgericht stellt fest, dass die Stimmberechtigten sich in einem Dilemma befinden würden, wenn die Motion nicht gleichzeitig, wie die Umsetzungsinitiative vor das Stimmvolk käme (E. 4.4.3). Eine differenzierte Stimmabgabe sei so nicht gewährleistet, weshalb der Kantonsrat über die Gültigkeit der «Umsetzungsinitiative» zu entscheiden, und diese in einer Volksabstimmung die auf der Motion basierenden Verfassungsänderung als Gegenvorschlag gegenüberzustellen hat. Abschliessend zu erwähnen ist, dass das Bundesgericht sich indirekt auch zur Gültigkeit der Umsetzungsinitiative äusserte, obschon dies in die Zuständigkeit des Schaffhauser Kantonsrats fällt (Es spreche «prima vista alles dafür, dass die Umsetzungsinitiative für gültig zu erklären ist.») (E. 4.4.5).
8C_306/2023* (07.03.2024): Arbeitslosenversicherung (Kurzarbeitsentschädigung; Rückforderung)
Damit Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung besteht, muss der Arbeitsausfall bestimmbar oder die Arbeitszeit ausreichend kontrollierbar sein (Art. 31 Abs. 3 lit. a AVG). Eine genügende Kontrollierbarkeit des Arbeitsausfalles setzt voraus, dass eine betriebliche Arbeitszeitkontrolle im Sinne des Erfordernisses der täglich fortlaufenden Aufzeichnung besteht (E. 5.1.2) und die Unterlagen während fünf Jahren aufbewahrt werden. Vorliegend reichte die Beschwerdeführerin nachträglich Unterlagen ein, die die betriebliche Arbeitszeitkontrolle hätten beweisen sollen. Das Bundesgericht schützte die Ansicht der Vorinstanz, dass die Unterlagen für eine Berücksichtigung «offensichtlich authentisch» sein müssen, was vorliegend nicht der Fall war. Die Beschwerdeführerin hätte die Unterlagen sofort vorgelegt, wären sie bereits bei der Kontrolle vorhanden gewesen (E. 5.1.2).
18.03.2024 – 22.03.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
8C_166/2023 * (06.03.2024) Invalidenversicherung (Invalidenrente; Einkommensvergleich)
Wird im Rahmen der Invaliditätsbemessung auf Tabellenlöhne abgestellt, so sind die aktuellsten statistischen Daten, d.h. die im Verfügungszeitpunkt bezogen auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns aktuellsten veröffentlichten Daten beizuziehen (E. 4.2; E. 5.2). Mit Urteil vom 20. Dezember 2022 wurde die Beschwerdeführerin rückwirkend per 1. Februar 2022 eine abgestufte Invalidenrente gewährt (E. 5.2). Betreffend die Veröffentlichung hielt das Bundesgericht fest, dass die einschlägige Tabelle im Entscheidzeitpunkt (in casu: 20.12.2022) – nicht aber bereits bei der Rentenabstufung – veröffentlicht sein muss (E. 5.3).
1C_543/2023 * (07.03.2024) Internationale Rechtshilfe in Strafsachen an Russland; Dauer der Beschlagnahme
Die massgebenden Rechtshilfeabkommen mit Russland gelten weiterhin und die Schweiz ist grundsätzlich verpflichtet, Rechtshilfe zu leisten (E. 2.2; BGE 149 IV 144). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann sich in erster Linie diejenige Person auf Art. 2 IRSG berufen, deren Auslieferung verlangt wird (E. 4.2). Vorliegend waren die Voraussetzungen des Beschwerdegegners für die Berufung auf Art. 2 IRSG (E. 4.2) nicht gegeben (E. 4.3). Die zeitliche Dauer einer Zwangsmassnahme (in casu: Beschlagnahme) ist unter drei verschiedenen Aspekten zu prüfen (E. 5.1). Die Rüge, dass das Verfahren im ersuchenden Staat zu lange gedauert hat, ist im schweizerischen Rechtshilfeverfahren nur dann erfolgreich, wenn sich die betroffene Person auf Art. 2 IRSG berufen kann und die Verfahrensverzögerung dem Odre public zuwiderläuft. Nach Art. 17a Abs. 1 IRSG hat die zuständige Behörde das Ersuchen beförderlich zu erledigen und ohne Verzug zu entscheiden. Das Bundesgericht geht davon aus, dass selbst eine schwerwiegende Verletzung des Gebots der raschen Erledigung nicht zur Verweigerung der Rechtshilfe führt (E. 5.1). Schliesslich ist zu prüfen, ob mit der Aufrechterhaltung der Beschlagnahme einhergehende Eingriff in die Eigentumsgarantie nicht mehr verhältnismässig ist (E. 5.1). In casu dauerte die Sperre des Kontos mehr als acht Jahre. Einerseits ist der Eingriff nicht geringfügig. Andererseits sind die den Interessen des Beschwerdegegners entgegenstehenden öffentlichen und privaten Interessen an der angeordneten Massnahme erheblich, weil die Gefahr besteht, dass die spätere Einziehung der Vermögenswerte mit mutmasslich deliktischem Ursprung bzw. ihre Aushändigung an geschädigte Personen im Falle einer Aufhebung der Kontosperre vereitelt werden könnte. Jedoch ist die Dauer des Verfahrens nicht zu beanstanden und entsprechend eine Verletzung der Eigentumsgarantie zu verneinen (E. 5.2).
11.03.2024 – 15.03.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
7B_155/2024*(05.03.2024): Haftentlassungsgesuch, qualifizierte Wiederholungsgefahr
Vorliegend äusserte sich das Bundesgericht – soweit ersichtlich – erstmals zum neuen Haftgrund nach Art. 221 Abs. 1bis StPO. Es prüfte in diesem Leiturteil den Haftgrund der «qualifizierten Wiederholungsgefahr» nach altem und neuem Recht. Im Gegensatz zur «einfachen» Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) ist keine einschlägige Vortat erforderlich. Dagegen muss die Rückfallprognose bei der qualifizierten Wiederholungsgefahr nicht nur ungünstig, sondern sehr ungünstig sein. Der Beschwerdeführer befand sich im Rahmen einer Strafuntersuchung wegen vorsätzlicher Tötung und weiterer Delikte in Untersuchungshaft. Der Beschwerdeführer hat eine Verletzung von Art. 221 Abs. 1bis lit. b StPO geltend gemacht (E. 1.2.), obwohl die Vorinstanz entsprechend erforderlichem psychiatrischem Gutachten zahlreiche als ernst einzustufende Risikofaktoren feststellte, welche die Rückfallgefahr hinsichtlich erneuter, auch schwerer Gewalttaten als mittelgradig bis erhöht erscheinen liessen (E.3.5.). Das Bundesgericht bestätigte schliesslich, dass vorliegend eine ausreichend erhebliche (ernsthafte und unmittelbare) Wahrscheinlichkeit für neue schwere Gewaltverbrechen zu bejahen ist.
7B_209/2022 (09.02.2024): Widerhandlung gegen Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes über das Verbot der Gruppierungen « Al-Qaïda » und « Islamischer Staat » sowie verwandter Organisationen; Begründungspflicht, Bestimmtheitsgebot, Meinungsäusserungs- und Medienfreiheit etc.
Das Bundesgericht weist die Beschwerden von zwei Vorstandsmitgliedern des Vereins « Islamischer Zentralrat Schweiz » (IZRS) gegen ihre Verurteilung durch das Bundesstrafgericht ab. Es bestätigt die Schuldsprüche wegen Widerhandlung gegen das Al-Qaïda/IS-Gesetz durch Werbung für zwei Propaganda-Videos. Die Verurteilten haben in objektiv erkennbarer Weise wissentlich Propaganda für Jabhat Al-Nusra und Al-Qaida verbreitet und dadurch Aktivitäten von verbotenen Vereinigungen gemäss Art. 2 Abs. 1 Al-Qaïda/IS-Gesetz gefördert (E. 5.5.3.; E. 9.4.3.) Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass sie über den Inhalt der Videos und um deren propagandistischen Charakter Bescheid wussten. Die Rügen der Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit und der Medienfreiheit wurden abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte (E. 7.5.2.; E.7.5.5.).
04.03.2024 – 08.03.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
8C_333/2023* (01.02.2024): Sozialhilfe (Rückerstattung)
Bei der Beurteilung der Frage des Verhältnisses der Pflicht zum Vorbezug von Freizügigkeitsleistungen der beruflichen Vorsorge und dem Anspruch auf Sozialleistungen stellte das Bundesgericht fest, dass dem Subsidiaritätsprinzip kein absoluter Vorrang im Vergleich zum Vorsorgeschutz zukommt (E. 6.5 und E. 7.4). Es hielt fest, dass ein Vorbezug mit 60 Jahren grundsätzlich möglich sei und ein Sozialhilfebeziehender zum Vorbezug aufgefordert werden könne, dieser aber nicht dazu führen dürfe, dass das gesamte Freizügigkeitsguthaben beim Erreichen der Altersgrenze von 63 Jahren zum Vorbezug der AHV-Rente bereits aufgebracht ist (E. 7.3.2). Für die Berechnung des Mittelverbrauchs sei sodann auf die Bedarfsberechnung der Ergänzungsleistung abzustellen, da der Beschwerdeführer mit Vorbezug des Freizügigkeitsguthabens gerade nicht mehr auf das sozialrechtliche Existenzminimum fixiert gewesen wäre (E. 7.3.3).
9C_482/2022* (31.01.2024): Ergänzungsleistungen zur AHV/IV
Ob es sich beim hypothetischen Einkommen nach Art. 14a Abs. 2 ELV um ein Brutto- oder Nettoeinkommen handelt, kann der Bestimmung nicht entnommen werden. Diese Differenzierung ist relevant, für die Beurteilung der Frage, ob die hypothetisch zu leistenden Sozialbeiträge in Abzug zu bringen sind. Das Bundesgericht hält fest, dass der Abzug in vorherigen Entscheiden mit der Argumentation, dass der Bestand und die Höhe nicht eruierbar seien, verneint wurde (E. 3.2.1). Vorliegend wurden die Sozialversicherungsbeiträge aber effektiv geleistet und standen entsprechend zur Bestreitung des Lebensunterhaltes nicht mehr zur Verfügung. Entsprechend gilt Art. 10 Abs. 3 lit. c ELV auch bei Fällen von Art. 14a Abs. 2 ELV, weshalb die obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge in Abzug zu bringen sind (E. 3.2.2).
5A_176/2023* (09.02.2024): Abänderung des Scheidungsurteils
Vorliegend erwog das Bundesgericht, dass der Betreuungsunterhalt zwar formell als Anspruch des Kindes ausgestaltet ist, wirtschaftlich aber dem betreuenden Elternteil zukommt (E. 5.3.1). Dieser bemisst sich aus der Differenz zwischen dem familienrechtlichen Grundbedarf und dem Nettoeinkommen des betreuenden Elternteils (E. 5.3.2). Somit schlägt sich ein höheres Einkommen des betreuenden Elternteils unmittelbar in der Höhe des geschuldeten Unterhaltes nieder (E. 5.3.2), da der betreuende Elternteil infolge gesteigerten Einkommens den Grundbedarf selber oder zumindest in grösserem Umfang selber decken kann. Entsprechend sei eine Abänderung des Betreuungsunterhaltes vorzunehmen, wenn die eingetretene Änderung dauerhaft und wesentlich ist; eine weitergehende Gesamtbetrachtung beim Betreuungsunterhalt ist unzulässig (E. 5.3.3). Folglich bejahte das Bundesgericht erstmalig, dass es für die Abänderung des Betreuungsunterhaltes kein unzumutbares Ungleichgewicht benötigt. Anders verhält es sich beim Barunterhalt, der die direkten Kosten des Kindes decke und bei dem den Umständen des Einzelfalles Rechnung getragen werden kann (E. 5.3.1).
26.02.2024 – 01.03.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
6B_1005/2021* (29.01.2024): Hinterziehung der Verrechnungssteuer (Art. 61 lit. a aVStG); Verjährung; rechtliches Gehör
Das Bundesgericht führt aus, dass die Verjährungsfrist an dem Tag zu laufen beginnt, der auf den Tattag folgt, wobei der Zeitpunkt entscheidend ist, an dem der Täter seine strafbare Tätigkeit ausgeübt hat (E. 1.2.3). Als Tatzeitpunkt der Verletzung der Deklaration der Verrechnungssteuer wird die Einreichung der Jahresrechnung definiert bzw. wenn keine eingereicht wird nach Ablauf der 30-tägigen Deklarationspflicht nach Art. 21 Abs. 1 VStV (E. 1.2.3). Das Bundesgericht bestätigte sodann seine Rechtsprechung, wonach eine in einem kontradiktorischen Verfahren erlassene Strafverfügung als erstinstanzliches Urteil gilt (E. 1.3.3). Diese Rechtsprechung verstösst weder gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK noch gegen Art. 30 Abs. 1 BV, da eine Beschwerde gegen die Strafverfügung durch ein Strafgericht – mithin einem Gericht, das über volle Kognition verfügt – beurteilt wird (E. 1.3.4). Schliesslich war zu entscheiden, wie vorzugehen ist, wenn mangels Steuersubjekts nicht mehr auf dem verwaltungsrechtlichen Weg über die Leistungspflicht entschieden werden kann (E. 2.4.1). Nach Ausführungen zur bundesrätlichen Botschaft zu Art. 73 VStR (E. 2.4.3) kam das Bundesgericht zum Schluss, dass in Fällen, in denen die Vorfrage der Leistungs- oder Rückleistungspflicht auf dem verwaltungsrechtlichen Weg aus irgendwelchen Gründen nicht (mehr) entschieden werden kann, die Akten gestützt auf Art. 73 Abs. 1 Satz 1 VStrR auch ohne Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht an die zuständige Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichts überwiesen werden können (E. 2.4.4).
12.02.2024 – 16.02.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
7B_159/2022* (11.01.2024): Strafverfahren; Genehmigung eines Zufallfundes aus der ausländischen Überwachung der Kommunikationsplattform
Das Bundesgericht bestätigte, dass zwischen rechtshilfeweise erlangten allfälligen Zufallsfunden und solchen aus Überwachungen nach Art. 269 ff. StPO zu differenzieren sei (E. 5.6; BGE 143 IV 270 E. 4.7). Obschon sich die Schweizer Behörden auf konkrete und detailliert begründete Verdachtsgründe stützen, handelt es sich gemäss Bundesgericht nicht um einen Zufallsfund i.S.v. Art. 274 i.V.m. Art. 278 StPO, da die rechtshilfeweise erlangten Beweismittel ebenfalls bei den bisher untersuchten Delikten verwendet werden sollten (E. 5.8). Ob diese Beweise durch die amerikanischen Behörden rechtmässig erlangt wurden und somit verwertbar sind, sei nicht durch den Zwangsmassnahmenrichter, sondern durch den Sachrichter zu entscheiden (E. 5.8).
5A_169/2023* (12.01.2024): Definitive Nachlassstundung/Verlängerung, Konkurseröffnung
Das Bundesgericht stellte fest, dass für eine Verlängerung der definitiven Nachlassstundung gemäss Art. 295b SchKG zwingend ein Antrag des Sachwalters vorliegen muss. Eine Verlängerung ohne Antrag des Sachwalters bzw. auf Antrag des Schuldners oder eines Gläubigers lässt sich weder historisch (E. 3.5 ff.) noch aus dem Zweck (E. 3.6 ff.) der Bestimmung ableiten. Sofern der Sachwalter keinen bzw. nicht rechtzeitig Antrag auf Verlängerung der definitiven Nachlassstundung stellt und die definitive Nachlassstundung ausläuft, hat dies dieselben Wirkungen wie ein Abbruch während der definitiven Stundung (Art. 296b SchKG) und zieht den Konkurs nach sich (E. 4).
9C_135/2022* (12.12.2023): Krankenversicherung
Screening Methode: Für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Leistungen gilt ab dem Statistikjahr 2017 die Screening-Methode (statistische Methode). Die Screening-Methode zeichnet sich durch ihre zweistufige Regressionsanalyse aus und stellt den «ersten Schritt» bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung dar; sie dient zur Detektion von Ärzten mit auffälligen Kosten (E. 4.3.2 und E. 4.4.1). Ist das Ergebnis des Screenings auffällig, ist in einem «zweiten Schritt» eine Einzelfallanalyse notwendig, wobei diese nicht mit der herkömmlichen analytischen Prüfmethode zu verwechseln ist (E. 5.2.4). Entsprechend stellt das Screening nicht eine unwirtschaftliche Behandlung fest – sondern nur auffällige Kosten – und kann demnach nicht Grundlage einer Rückforderung sein; vielmehr muss die Klage auf einer kompletten Einzelfallprüfung gründen (E. 5.3.1 und E. 5.6). Daraus resultiert, dass die Screening-Methode keine Beweismethode ist, die eine Beweislastumkehr rechtfertigen würde (E. 5.3.2). Im Übrigen stellte das Bundesgericht fest, dass die Toleranzmarge auch mit der neuen Screening-Methode als Zuschlag von 20 bis 30 Punkten zum Referenzindex zu veranschlagen ist (E. 5.4).
Einzelfallprüfung: Das zu prüfende Merkmal kann praxistypologischer, «kategorialer» Art sein, die sich auf die Zusammensetzung des Patientenkollektivs auswirkt. Dabei betont das Bundesgericht, dass die Integration eines kostenwirksamen Faktors in die Screening-Methode, die weitere Berücksichtigung als Praxisbesonderheit nicht im vornherein ausschliesst (E. 5.5.3). Vorliegend bejahte das Bundesgericht insbesondere die Selbstdispensation als Praxismerkmal, welches einen Einfluss auf die Kostenstruktur hat (E. 6.4 ff.). Dieses Merkmal wird auch nicht durch den Morbiditätsfaktoren «Pharmazeutische Kostengruppen» (PCG) kostenmässig neutralisiert (E. 6.5).
5A_357/2022* (8.11.2023): Anfechtung von Versammlungsbeschlüssen und definitive Eintragung eines Gemeinschaftspfandrechts
Dreijahresfrist zur Eintragung des Gemeinschaftspfandrechts: In diesem Entscheid musste das Bundesgericht erstmalig die Frage nach der Berechnung der Dreijahresfrist zur Eintragung des Gemeinschaftspfandrechts gemäss Art. 712i ZGB entscheiden. Sowohl in der Lehre als auch in der kantonalen Rechtsprechung werden unterschiedliche Berechnungsarten angewendet. Das Bundesgericht hielt fest, dass die grammatikalische Auslegung der Bestimmung keine klare Antwort gibt, wie die Frist zu berechnen wäre (E. 6.2.1.7). Sinn und Zweck des Gemeinschaftspfandrechts besteht darin, das Risiko der Uneinbringlichkeit der von den Stockwerkeigentümern geschuldeten Beitragsforderungen zu minimieren, weil diese unter Umständen die einzigen Aktiven des Gemeinschaftsvermögens bilden (E. 6.2.1.10). Beim Gemeinschaftspfandrecht handelt es sich nicht um ein unmittelbar gesetzliches Pfandrecht, welches ein Rangprivileg und Verwertungsvorrecht geniesst, d.h. es gilt das Prinzip der Alterspriorität. Um den Sinn und Zweck der Bestimmung zu erfüllen, muss als Ausgangspunkt für die Rückrechnung der Dreijahresfrist auf das Begehren um Eintragung des Gemeinschaftspfandrecht abgestellt werden, wobei die Fälligkeit der Beitragsforderung den Anfangszeitpunkt markiert (E. 6.2.1.10 i.V.m. E. 6.2.1.1). Zur Veranschaulichung: Wird eine Beitragsforderung am 30. September 2020 fällig, müsste das Begehren um Eintragung des Gemeinschaftsrechts spätestens am 30. September 2023 gestellt werden (E. 6.2.1.2).
Kostentragung nach Art. 712h ZGB: Vorliegend bestand eine Stockwerkeigentümergemeinschaft bestehend aus 12 Einheiten, wobei 6 davon bebaut sind. Zunächst hielt das Bundesgericht fest, dass für das Abweichen der reglementarisch vorgesehenen wertquotenproportionalen Kosten- und Lastenverteilung keine Verpflichtung zur Änderung des Reglements besteht, auch wenn diese Abweichung wiederholt beschlossen werde (E. 5. 1.2.2). Die vollumfängliche Befreiung zur Kostentragung der Eigentümer der nicht bebauten Einheiten ist gemäss Art. 712h Abs. 1 zulässig und für einen Teil der Kosten gemäss Art. 712h Abs. 3 ZGB sogar geboten (E. 5.1.3.8). Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Eigentümer der nicht bebauten Einheiten stimmberechtigt waren. Ein vor Abschluss der Bauarbeiten eingetragenes Stockwerkeigentum stellt ein vollwertiges Stockwerkeigentum dar und der Eigentümer des Anteils wird automatisch Mitglied der Stockwerkeigentümergemeinschaft, wobei das Stimmrecht der Kern der Eigentümerrechte ist (E. 5.1.3.4 und E. 5.1.3.7).
Prozessvertretung des Verwalters: Grundsätzlich muss die Ermächtigung ausserhalb eines summarischen Verfahrens vorgängig erfolgen, unter Vorbehalt von dringenden Fällen, wo die Ermächtigung nachgeholt werden kann (Art. 712t Abs. 2 ZGB; E. 4.1.1). Dieses gesetzliche Erfordernis der vorgängigen Ermächtigung schliesst allerdings nicht aus, den nicht bevollmächtigten Verwalter als falsus procurator zu behandeln, dessen Handeln nachträglich mit Wirkung ex tunc genehmigt werden kann (E. 4.1.2 und E. 4.4.3).
05.02.2024 – 09.02.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
9C_83/2023 * (19.12.2023): Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Zürich sowie direkte Bundessteuer, Steuerperioden 2008-2015
Im vorliegenden Fall war die Frage zu beantworten, ob die Renten der Bayrischen Ärzteversorgung (BÄV) als Leibrenten zu 40% zu besteuern oder steuerlich voll zu berücksichtigen sind. Aufgrund der steuerlichen Ansässigkeit war unbestritten, dass die Rentenleistungen aus Deutschland in der Schweiz zu versteuern sind (E. 4.1.1.). Bezüglich der Qualifikation der Leistungen der BÄV hielt das Bundesgericht fest, dass das Versorgungsnetzwerk im Zusammenhang mit einer obligatorischen Versicherung am ehesten mit der schweizerischen AHV und im Falle einer freiwilligen Weiterversicherung mit der beruflichen Vorsorge vergleichbar ist (E. 4.3.2.2.). Für die überwiegende Dauer, d.h. die Renten aus Beiträgen waren während der Zeit der freiwilligen Versicherung bei der BÄV als Einkünfte aus beruflicher Vorsorge zu versteuern (E. 4.3.2.4.). Die Übergangsbestimmungen gem. Art. 204 DBG sind nach Rechtsprechung und Literatur nicht anwendbar, da die Vorschrift nur Einkünfte aus Einrichtungen der BV betrifft, wobei es sich um solche aus registrierten Vorsorgeeinrichtungen, aus Vorsorgelösungen gem. Art. 331 Abs. 1 OR oder aus Freizügigkeitspolicen handeln muss (E. 5.3.1.). Auch führt die Nichtanwendung von Art. 204 DBG nicht zu einer Verletzung des Diskriminierungsverbots gem. Art. 2 FZA, da der Sachverhalt nicht mit jenem eines aus dem Ausland Zugezogenen verglichen werden kann, da die Beschwerdeführer eine im Ausland eingegangen Versicherungslösung freiwillig weitergeführt haben und die Beiträge an die BÄV zu keinem Zeitpunkt in der Schweiz steuerlich abzugsfähig waren (E. 5.4.2.4.).
7B_800/2023 * (18.12.2023): Schadenersatz und Genugtuung (Änderung der Sanktion); rechtliches Gehör
Nach der Rechtsprechung des EGMR kann ein Vertragsstaat zusätzlich zu der bereits nach Art. 41 EMRK durch den EGMR zugesprochenen Entschädigung eine weitere Entschädigung gewähren, entweder in Form von zusätzlichem Geld oder in einer anderen Form, z.B. der Milderung einer verhängten Strafe (E. 2.2.). Im Nachgang einer durch den EGMR festgestellten Konventionsverletzung ist ein bundesgerichtliches Revisionsverfahren durchzuführen (E. 2.3). Die bundesgerichtliche Revision gestützt auf ein Urteil des EGMR dient ausschliesslich dazu, nicht-finanzielle Nachteile auszugleichen (vgl. Art. 122 lit. b BGG e contrario). Das bedeutet, dass das kantonale Verfahren, das aufgrund des revidierten bundesgerichtlichen Urteils durchgeführt wird, sich nicht erneut auf finanzielle Aspekte ausweiten kann, über die der EGMR bereits entschieden hat. In casu fehlt es an einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage für eine zusätzliche finanzielle Entschädigung für den zu Unrecht erlittenen Freiheitsentzug, nachdem der EGMR eine solche beurteilt und zugesprochen hat (E. 2.4.2.).
29.01.2024 – 02.02.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
9C_732/2022* (18.12.2023): Staatssteuer des Kantons Solothurn sowie direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2018
Vorliegend stellte sich die Frage, ob die Prämien für die Krankentaggeldversicherung unter den allgemeinen Versicherungsabzug fallen (vgl. Art. 33 Abs. 1 lit. g DBG und Art. 9 Abs. 2 lit. g StHG; respektive § 41 Abs. 2 StG/SO, E. 3.). Konkret können organische Abzüge (Gewinnungskosten; Art. 26-32 DBG), allgemeine Abzüge (auch anorganische Abzüge genannt, Art. 33 und 33a DBG) sowie die Sozialabzüge abgezogen werden (Art. 35 DBG, E. 4.) Für die Beurteilung, ob die Prämien für die Krankentaggeldversicherung als Gewinnungskosten zu qualifizieren sind, muss das Kriterium der Freiwilligkeit zur Bezahlung der Prämien berücksichtigt werden (E. 5). Im vorliegenden Fall wurden die geleisteten Krankentaggeldversicherungs-Prämien nicht freiwillig geleistet. Es besteht ein qualifiziert enger Konnex zwischen den getätigten Ausgaben und den erzielten Einkünften, weswegen die auf den Steuerpflichtigen überwälzten hälftigen Prämien der Krankentaggeldversicherung in casu als Gewinnungskosten zu qualifizieren sind (E. 5.4). So sind die vom Arbeitgeber auf den Steuerpflichtigen als Arbeitnehmer überwälzte hälftigen Prämien für die Krankentaggeld-Versicherung vom steuerbaren Einkommen als Gewinnungskosten für die direkte Bundessteuer als auch für die Staatssteuern des Kantons Solothurn für die Steuerperiode 2018 im Rahmen der Berufskostenpauschale (Art. 26 Abs. 1 lit. c DBG i.V.m. Abs. 2 DBG) absetzbar (E. 5.5.).
4A_172/2023* (11.01.2024): Internationale Schiedsgerichtsbarkeit
Eine singapurische Gesellschaft und ihr Tochterunternehmen leiteten gestützt auf Art. 13 Abs. 3 ISA 1985 ein Schiedsverfahren gegen die Volksrepublik China ein und verlangten die Feststellung verschiedener Verletzungen des Investitionsschutzabkommens 1985 sowie Ersatz des daraus entstandenen Schadens. Gemäss Art. 6 Abs. 2 ISA 1985 gilt, dass die Rechtmässigkeit einer Enteignung bzw. einer Massnahme mit gleicher Wirkung auf Antrag des betroffenen Investors durch die staatlichen Gerichte des betreffenden Vertragsstaats zu überprüfen ist. Zudem sind die Vertragsstaaten gemäss Art. 6 Abs. 1 und 3 ISA 1985 verpflichtet, dass in ihrem Hoheitsgebiet ausreichender Schutz gegen solche Massnahmen sowie hinreichende Entschädigung im Sinne des Abkommens gewährleistet wird. Das Schiedsgericht muss nicht entscheiden, ob die Vertragsstaaten dieser Verpflichtung nachgekommen sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Schiedsklausel im ISA 1985 objektiv nach den in Art. 31 f. VRK vorgesehenen Grundsätzen auszulegen ist und die vertraglich umschriebene Zuständigkeit des Schiedsgerichts nicht je nachdem, ob die Vertragsstaaten ihren aus dem auszulegenden Staatsvertrag fliessenden Verpflichtungen nachgekommen sind oder nicht, enger oder weiter ausgelegt werden kann. Dem Schiedsgericht kann keine Verletzung von Art. 31 VRK vorgeworfen werden. Wegen fehlender Rechtserheblichkeit wurde auf die Rüge der Beschwerdeführerinnen nicht eingegangen (E. 5.4.2.).
9C_391/2023* (05.01.2023): Staats- und Gemeindesteuern des Kantons Bern und direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2018
Art. 1 Abs. 1 lit. a Ziff. 2 der ESTV-Liegenschaftskostenverordnung bezeichnet Einlagen in den Reparatur- oder Erneuerungsfonds (Art. 712l ZGB) von Stockwerkeigentumsgemeinschaften als abziehbare Unterhaltskosten, sofern diese Mittel nur zur Bestreitung von Unterhaltskosten für die Gemeinschaftsanlagen verwendet werden (E. 4.2.). Ein Erneuerungsfonds gilt als ein Sondervermögen, um zukünftige Unterhalts- und Erneuerungsarbeiten zu finanzieren (E. 4.3.). Art. 1 Abs. 1 lit. a Ziff. 2 der ESTV-Liegenschaftskostenverordnung setzt die Einlage in den Erneuerungsfonds in zeitlicher Hinsicht dem definitiven Mittelabfluss gleich (E. 4.5.) Vorliegend ersuchte der Beschwerdeführer als Käufer einer Stockwerkeinheit den Betrag vom steuerbaren Einkommen abziehen zu können, welchen er dem Verkäufer für den Anteil am Erneuerungsfonds bezahlt hat. Eine solche Zahlung wird als das Entgelt qualifiziert, das der Käufer dem Verkäufer für die Veräusserung beweglichen Vermögens in Form des Anteils am Erneuerungsfonds bezahlt, fliesst nicht dem Erneuerungsfonds zu und gilt zu keinem Zeitpunkt als Unterhalt des Grundstücks (E. 4.6.). Auch wenn damit die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers aufgrund der Zahlung an den Verkäufer als gleichermassen herabgesetzt erschiene, wie diejenige des Stockwerkeigentümers, welcher im gleichen Jahr denselben Betrag in den Erneuerungsfonds einlegt, hätte dies nicht zur Folge, dass der Beschwerdeführer schon von Verfassungs wegen dafür ebenfalls einen steuerlichen Abzug geltend machen muss. (E. 5.2.) Es wurde folglich kein Bundesrecht verletzt, indem der Abzug der Zahlung des Beschwerdeführers an den Verkäufer der Stockwerkeinheit verweigert wurde (E. 7.).
9F_20/2022* (08.01.2023): Alters- und Hinterlassenenversicherung
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass die Schweiz durch das Urteil 9C_617/2011 vom 4. Mai 2012 Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK verletzt hat. Art. 122 BGG bestimmt, dass die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts wegen Verletzung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) verlangt werden kann, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem endgültigen Urteil (Art. 44 EMRK) festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, oder den Fall durch eine gütliche Einigung (Art. 39 EMRK) abgeschlossen hat (Art. 122 lit. a BGG), eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen (Art. 122 lit. b BGG) und die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen (Art. 122 lit. c BGG) (E. 2.2.). Das Bundesamt für Justiz erklärte, dass dem Gesuchsteller nach Abschreibung des Verfahrens den Betrag für die entgangenen Rentenleistungen nachgezahlt wird. Der Gesuchsteller hat die Berechnung des Nachzahlungsbetrages jedoch nicht substanziiert bestritten. Der Beschwerdeführer vermochte ebenfalls nicht darzulegen, dass unter diesen Umständen aus anderen Gründen ein das Revisionsgesuch gutheissendes bundesgerichtliches Urteil notwendig wäre. Soweit auf das Revisionsgesuch überhaupt eingetreten werden könnte, erweist sich die Revision aufgrund der Bereitschaft der Eidgenossenschaft die Rentenleistungen nachzuzahlen, als nicht notwendig im Sinne von Art. 122 lit. c BGG, um die Konventionsverletzung zu beseitigen. Das Verfahren ist folglich in diesem Umfang als gegenstandslos abgeschrieben (E. 3.1.).
22.01.2024 – 26.01.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
9C_597/2023* (20.12.2023): Alters- und Hinterlassenenversicherung (Altersleistungen)
Ziel des Rentenaufschubs ist es, dass Personen während der Dauer des Rentenbezugs so gestellt werden, wie wenn sie die AHV-Rente mit Erreichen des ordentlichen Rentenalters bezogen hätten. Indem der Zuschlag basierend auf der Summe der aufgeschobenen Monatsbetreffnisse nach Massgabe der in Art. 55ter Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 AHVV (tiefere Prozentsätze) stipulierten Durchschnittsberechnung, mit Anpassung an die Lohn- und Preisentwicklung (Abs. 5), erfolgt, werde diesem Zweck Rechnung getragen. Ein Zuschlag basierend auf der im Zeitpunkt des Abrufs geltenden Rente inkl. Anpassung des derart ermittelten Zuschlags an die Preis- und Einkommensentwicklung würde hingegen dazu führen, dass der kapitalisierte Wert des Rentenzuschlags den versicherungsmässigen Gegenwert der während der Aufschubszeit nichtbezogenen Rente übersteige, was bundesrechtswidrig wäre (E. 7.3.2).
5A_375/2023* (21.11.2023): Weisung an Kindsmutter
Das in Art. 273 Abs. 2 ZGB vorgesehene Weisungsrecht der Kindesschutzbehörde knüpft an eine behördliche Regelung des persönlichen Verkehrs an, weshalb vorliegend – aufgrund fehlender behördlicher Anordnung über den Anspruch auf persönlichen Verkehr – keine Weisung nach Art. 273 Abs. 2 ZGB hätte erfolgen dürfen (E. 3.4.1). Auch lässt sich die Weisung nicht gestützt auf Art. 307 Abs. 3 ZGB rechtfertigen. Dafür benötige es nicht nur die Gefährdung des Kindeswohls, sondern auch die Verhältnismässigkeit der Weisung. Diese ist vorliegend nicht gegeben, zumal es die behördliche Pflicht ist, die fachmännische Aufklärung des Kindes durch eine Drittperson oder eine entsprechende Begutachtung zu veranlassen. Mit einer Weisung an die Mutter kann diese behördliche Pflicht nicht geschehen (E. 3.4.3).
9C_202/2023* (21.12.2023): Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (Covid-19)
Das Bundesgericht beurteilte die Frage, ob vorliegend die grosse Härte als erste Erlassvoraussetzung für die Rückzahlung von zu viel ausgerichtetem Corona-Erwerbsersatz gegeben ist. Dabei wendete das Bundesgericht bei der Beurteilung der grossen Härte einen strengen Massstab an, d.h. eine Überschuldung muss eingetreten sein bzw. unmittelbar drohen. Obschon Covid-Kredite gemäss Art. 24 Abs. 1 Covid-19-SBüG für die Berechnung der Deckung von Kapital und Reserven sowie für die Berechnung der Überschuldung nicht als Fremdkapital berücksichtigt werden, gelten sie für die Rechnungslegung als Fremdkapital (E. 5.4.2 f.). Entsprechend war die Gesellschaft überschuldet und die grosse Härte als erste Erlassvoraussetzung für die Rückzahlung lag vor (E. 5.4.4).
5A_33/2023 (20.12.2023): Ehescheidung, elterliche Sorge
Im Kontext der Ehescheidung gilt der Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge, wovon nur ausnahmsweise abgewichen werden darf, wenn dies das Kindeswohl besser wahrt. Die Zuteilung der elterlichen Sorge an einen Elternteil setzt weiter voraus, dass sich die Probleme der Eltern auf die Kinderbelange als Ganzes beziehen, welche das Kindeswohl konkret beeinträchtigen. Zudem muss dadurch eine Entlastung der Situation herbeigeführt werden (E. 4.2). In jedem Fall ist die Zuteilung der elterlichen Sorge an einen Elternteil ausgeschlossen, wenn eine alternierende Obhut besteht. Prozessrechtlich ist interessant, dass die alternierende Obhut vor Bundesgericht nicht mehr streitig war, weshalb auch die Vorinstanz bei der Neubeurteilung der elterlichen Sorge nicht mehr darauf zurückkommen kann (E. 4.4).
15.01.2024 – 19.01.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Laura Ambühl
9C_716/2022 (15.12.2023): Einfuhrabgaben, Abgabeperiode 2011
Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die Untersuchungsbehörde im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Nachleistung von Einfuhrabgaben (Art. 12 VStR) den nemo tenetur-Grundsatz verletzte, indem sie es versäumt hatte, den Verwaltungsratspräsidenten über seine Auskunfts- und Mitwirkungsrechte aufzuklären (E. 3.). Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass Art. 12 VStR keinen Strafzweck verfolgt, nicht dem materiellen Strafrecht zuzuordnen ist und keine strafrechtliche Anklage i.S.v. Art. 6 Ziff. 1 EMRK darstellt (E. 3.2.). Hinsichtlich der Verjährung kam das Bundesgericht durch Auslegung der entsprechenden Norm zum Ergebnis, dass Art. 12 VStrR der Bundesverwaltung einen eigenständigen Anspruch auf Nachleistung von Abgaben gewährt, der von der Abgabeforderung getrennt ist (E. 5.2.). Beide Forderungen verjähren unabhängig voneinander (E. 5.3.). Somit ist für die abgaberechtliche Forderung und die Forderung zur Nachleistung von Einfuhrabgaben separat nach der einschlägigen Rechtsnorm zu entscheiden, ob die Forderung verjährt ist (E. 5.4.).
6B_953/2023 (15.12.2023): Strafzumessung; verminderte Schuldfähigkeit; Massnahme für junge Erwachsene; Willkür
Im Gutachten bezog sich der Alkoholmittelwert nicht auf den Tatzeitpunkt, sondern fälschlicherweise auf den Zeitpunkt der Blutentnahme. Dennoch wird am Gutachten festgehalten, da die Alkoholkonzentration zum Zeitpunkt der Tat letztlich nicht entscheidend für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit war, weil der Sachverständige auch andere Faktoren wie Alkoholgewöhnung, Tatsituation und das Verhalten des Beschwerdeführers während der Tat berücksichtigte (E. 1.5.2. f.). Vorliegend waren die Voraussetzung für die Anordnung einer Massnahme für junge Erwachsene und für eine ambulante Therapie gegeben (E. 2.2.). Der Entscheid zur Anordnung einer Massnahme für junge Erwachsene wird jedoch durch das Untermassverbot eingeschränkt, da die Massnahme nach Vollendung des 30. Altersjahres aufgehoben werden müsste. Die «Zweidrittelgrenze» des Untermassverbots würde dadurch nicht eingehalten. Dass das Gutachten eine Massnahme für junge Erwachsene bevorzugt, reicht zur Anordnung nicht aus, vielmehr müssen die Erfolgsaussichten besonders günstig sein. Dies war jedoch vorliegend nicht der Fall, wobei dies durch die Einschätzung der Therapeutin gestützt wird. Da die Frage der Erfolgsaussichten bereits anhand der Einschätzung des Sachverständigen und der Therapeutin beurteilt werden kann, braucht nicht geprüft zu werden, ob die Vorinstanz unzulässigerweise vom forensisch-psychiatrischen Gutachten abweicht, indem sie das fortgeschrittene Alter des Beschwerdeführers und dessen Uneinsichtigkeit als Indizien dafür wertet, dass dieser der im Massnahmenvollzug für junge Erwachsene anvisierten Erziehung wenig zugänglich ist. (E. 2.4.3.).
4A_369/2023 (03.01.2024): Abschluss nach anerkanntem Standard zur Rechnungslegung, Antragsfrist (Art. 962 OR)
Der Abschluss nach einem anerkannten Standard gemäss Art. 962 Abs. 2 Ziff. 1 OR soll ein « minimales Fairplay » gewährleisten und die Minderheitsgesellschafter in die Lage versetzen, den Wert ihrer Beteiligung realistisch einzuschätzen. In Betracht fallen jedoch auch Praktikabilitätsüberlegungen und die für die Umstellung des Rechnungslegungsstandards benötigten zeitlichen und finanziellen Ressourcen (E. 5.4.). Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das Recht gestützt auf Art. 962 Abs. 2 Ziff. 1 OR für ein bestimmtes Geschäftsjahr einen Abschluss nach einem anerkannten Standard zu verlangen, spätestens sechs Monate vor dem Stichtag der Abschlussbilanz des betreffenden Geschäftsjahrs auszuüben ist, jedenfalls bei Aktiengesellschaften (E. 6.6.). Somit muss eine Gesellschaft auf Verlangen eines Minderheitsgesellschafters zwar für das bereits angebrochene halbe Geschäftsjahr rückwirkend den neuen Rechnungslegungsstandard einführen, es bleiben ihr aber immerhin zwölf Monate für die Implementierung des neuen Standards (E. 6.4.).
9C_449/2022 (29.11.2023): Berufliche Vorsorge
Vorliegend ging es um die Rückforderung von Leistungen gemäss Art. 35a BVG für den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 31. Mai 2021. Art. 35a BVG wurde auf den 1. Januar 2021 revidiert, insbesondere in Bezug auf die Verjährungsfrist, womit sich somit die Frage nach dem auf den Sachverhalt anwendbaren Recht stellte (E. 3.2. ff.). Aufgrund fehlender spezialgesetzlicher Rechtsnormen sind die allgemeinen intertemporalen Grundsätze anwendbar. Zeitlich offene Dauersachverhalt sind nach den jeweils geltenden rechtlichen Grundlagen zu beurteilen (E. 3.2.1.). Weiter ist zu beachten, dass der zweite Teil des BVG (somit auch Art. 35a BVG) lediglich Mindestvorschriften enthält, wobei hiervon zugunsten des Versicherten abgewichen werden darf (E. 3.2.2.). Nach Rechtsprechung zu aArt. 35 Abs. 2 BVG beginnt die relative Frist für die Rückforderung mit dem Zeitpunkt, an dem die Vorsorgeeinrichtung bei zumutbarer Aufmerksamkeit den Fehler hätte erkennen müssen (sog. zweiter Anlass). Die Frist kann jedoch nicht laufen, solange die Leistung nicht konkret erbracht wurde. Dieser Grundsatz ist auf Art. 35a Abs. 2 BVG analog anwendbar (E. 3.3.1.). Für die Wahrung der relativen Frist kommt auch unter neuem Recht Art. 135 OR analog zur Anwendung (E. 3.3.2.). Für den vorliegenden Fall bedeute dies, dass die relative Frist für die Leistungen vom 1. Mai 2016 bis zum 7. August 2018 bereits abgelaufen war, da die Einrede zu spät, nämlich am 23. November 2021 erfolgte (E. 5.2.3.1.). Für die Rückforderung vom 8. August 2018 bis 31. Mai 2021 ist Art. 95 Abs. 2 des Vorsorgereglements anwendbar, da dies die für den Versicherten günstigere Regelung enthält (1-jährige Verjährungsfrist; E. 5.2.3.2.). Im Ergebnis bedeutet dies, dass einzig die Frist für die Rückforderung vom 23. November 2020 bis 31. Mai 2021 gewahrt ist (E. 5.2.4.).
08.01.2024 – 12.01.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Janice Kowalski
9C_312/2023* (07.12.2023): Handänderungssteuer des Kantons Freiburg, Steuerperiode 2021
Wenn der Fondsvertrag dies ausdrücklich vorsieht, können Handänderungssteuern, die im Zusammenhang mit einem Fondsleitungswechsel anfallen, dem Fondsvermögen belastet werden, sofern der Fondsleitungswechsel im Interesse der Anleger liegt. Ob letzteres der Fall ist, hängt davon ab, ob der Nutzen aus dem Fondsleitungswechsel für die Anleger die Kosten daraus (einschliesslich der Handänderungssteuer) überwiegt. Die Beurteilung dieser Frage obliegt einerseits den mit dem Abschluss des Übertragungsvertrags befassten Fondsleitungen, andererseits der FINMA, die den Wechsel der Fondsleitung nur genehmigt, wenn die Fortführung des Anlagefonds im Interesse der Anlegerinnen und Anleger liegt (Art. 39 Abs. 5 FINIG) (E.4.5.). Entgegen der Beschwerdeführerin lässt sich nicht sagen, dass die Erhebung der Handänderungssteuer den Wechsel der Fondsleitung faktisch verunmöglicht (E. 4.6.) Schliesslich ist die Erhebung der Handänderungssteuer bei einem Fondsleitungswechsel mit dem Grundsatz der Gleichmässigkeit der Besteuerung vereinbar (E. 5.2.2.). Ausserdem hält das Bundesgericht fest, dass wenn die Beschwerdeführerin die Fondsleitung übernimmt, ohne darauf zu bestehen, die Handänderungssteuer den Anlegern überwälzen zu können, hat sie sich dies selbst zuzuschreiben. Eine konfiskatorische Besteuerung, die ohnehin nur unter engen Voraussetzungen angenommen wird (vgl. BGE 143 I 73 E. 5.1 und 5.2) ist darin jedenfalls nicht zu erblicken (E.6.). Abschliessend verneint das Bundesgericht das vorgebrachte Willkürverbot (Art. 9 BV), dass die Vorinstanz das kantonale Recht willkürlich angewendet habe. Der überwiegende Teil der Lehre befürwortet die Erhebung der Handänderungssteuer bei jeder Übertragung des zivilrechtlichen Eigentums und damit auch beim Wechsel der Fondsleitung, solange das kantonale Handänderungssteuerrecht nicht ausnahmsweise primär an die wirtschaftliche Verfügungsmacht anknüpft (E.7.2.).
9C_199/2023 *(11.12.2023): Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (Covid-19)
Die Beschwerdeführerin hat als Arbeitgeberin bei der Ausgleichskasse Basel-Stadt Antrag auf Ausrichtung von Erwerbsersatzentschädigung im Zusammenhang mit den Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus für ihren Arbeitnehmenden gestellt. Ein weiterer Arbeitgeber des soeben genannten Arbeitnehmenden hat für diesen bei der Ausgleichskasse des Kantons Aargau ebenfalls um Zusprechung von Corona-Erwerbsausfallentschädigung angefragt. Die Ausgleichskasse Basel-Stadt berechnete daraufhin den Anspruch auf Corona-Erwerbsausfallentschädigung rückwirkend ab September 2020 neu und forderte die an ihren Arbeitnehmenden ausgerichtete Leistungen von der Beschwerdeführerin zurück. Das Bundesgericht beurteilte die Rückforderung von Erwerbsersatzentschädigung im Zusammenhang mit den Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus. Es wies die Beschwerde ab und bestätigte die Rückerstattungspflicht für den der Beschwerdeführerin zu viel ausgezahlten Betrag (E.7.1.). Die von der Beschwerdeführerin monierte Verletzung des Akteneinsichtsrechts als Teilgehalt ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (E.4.2.1.) wurde ebenfalls abgewiesen (E.4.4.2.). Die Beschwerdeführerin brachte des Weiteren vor, dass für sie in keiner Weise nachvollziehbar sei, wie die Beschwerdegegnerin die Rückforderungsbeträge berechnet habe. Das Bundesgericht entgegnete, dass die Beschwerdegegnerin sogar Anspruch auf einen höheren Rückforderungsbetrag hätte. Aufgrund des Verbots des reformatio in peius gilt (vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG) jedoch, dass die Beschwerdeführerin nicht zu einer höheren als der vom kantonalen Gericht festgelegten Rückerstattungssumme verpflichtet werden kann (E.7.2.2.).
8C_103/2023* (06.12.2023): Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung)
Gemäss Art. 9 ATSG gilt eine Person als hilflos, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf. Die Angewiesenheit auf die Hilfe Dritter muss dabei regelmässig und erheblich sein gemäss Art. 37 Abs. 1-3 IVV (E. 3.2.1). Vorliegend unbestritten war, dass der Beschwerdeführet in alltäglichen Situationen nicht hilfsbedürftig ist (E. 4.). Wenn es von vornherein an der Notwendigkeit erheblicher Hilfe Dritter fehlt, kann keine Hilflosigkeit im Sinne von Art. 9 ATSG angenommen werden. Vorliegend war der Beschwerdeführer nur in drei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen, weswegen auch die Zusprache einer Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit nicht zu beanstanden ist (E.4.3.2.3.). Hingegen kann bei kompletter Paraplegie eine Hilflosenentschädigung leichten Grades praxisgemäss ohne Abklärung ausgerichtet werden (Ziff. 8068 KSIH). Zudem gilt nach ständiger Rechtsprechung eine versicherte Person, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, in der alltäglichen Lebensverrichtung « Fortbewegung/Kontaktaufnahme » als hilflos; dies gilt selbst dann, wenn die versicherte Person in der Lage ist, selber Auto zu fahren oder sich im Alltag weitgehend selbstständig fortzubewegen. Denn für die Bejahung der Hilflosigkeit bei dieser Lebensverrichtung genügt, dass eine infolge Gehunfähigkeit auf einen Rollstuhl angewiesene Person – unabhängig davon, ob eine komplette oder inkomplette Paraplegie vorliegt – im Alltag regelmässig und in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, um Hindernisse in einer nicht rollstuhlgängigen Umgebung zu überwinden (E. 5.3.1.).
01.01.2024 – 05.01.2024
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
4A_121/2023* (29.11.2023): Anfechtung des Anfangsmietzinses
Bei Erhöhungen des Anfangsmietzinses um mehr als 10%, die nicht durch Veränderung des Referenzzinssatzes und/oder Landesindexes der Konsumentenpreise gerechtfertigt sind, wird die Missbräuchlichkeit vermutet (BGE 147 III 431 E. 3.3). Bei der Widerlegung der Vermutung handelt es sich um einen Indizienbeweis, d.h. es genügt, wenn der Vermieter begründete Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung weckt. Der strikte Beweis der Orts- und Quartierüblichkeit ist hingegen nicht notwendig (E. 4.4.1 und 4.4.3). Indizien können unter anderem Vergleichsobjekte, statistische Daten und die Mietdauer des Vormietverhältnisses sein, wobei es nicht notwendig ist, dass der Vermieter mindestens 5 Vergleichsobjekte aufführe und die statistischen Daten die Anforderungen von Art. 11 Abs. 1 VMWG erfüllen (E. 4.3). Sofern die Vermutung widerlegt wird, obliegt es dem Mieter, den strikten Beweis der Missbräuchlichkeit des Anfangsmietzinses zu erbringen (E. 6.2.2).
8C_196/2023* (29.11.2023): Unfallversicherung (Invalidenrente; versicherter Verdienst)
Das Bundesgericht stellte fest, dass der Gesetzgeber die Mehrfachbeschäftigung bei Renten in Art. 24 UVV absichtlich nicht geregelt hat, weshalb die Bestimmung nicht über den Wortlaut hinaus in Anlehnung zu Art. 23 Abs. 5 UVV ausgelegt werden kann (E. 5.2.3). Eine Durchbrechung des Äquivalenzprinzips ist nicht gerechtfertigt, weshalb für die Bemessung des versicherten Lohnes die Nebenbeschäftigungen ohne Relevanz sind (E. 5.3). Obschon für den vorliegenden Fall noch die alte Fassung anwendbar war, ist davon auszugehen, dass die Rechtsprechung analog auch für die aktuell geltende Fassung gilt. Unklar ist, ob das Bundesgericht bei einem Unfall auf dem Arbeitsweg gleich entschieden hätte (E. 5.3).
1C_327/2022* (07.11.2023): Ausscheidung der kantonalen Nutzungszone für Abfallanlagen Stockeri
Gemäss Art. 7 Abs. 2 NHG ist im Falle einer erheblichen Beeinträchtigung zwingend ein Gutachten bei der ENHK einzuholen. Vom Sachverständigengutachten ist nur aus triftigen Gründen abzuweichen, d.h. wenn gleich- oder höherwertige Interesse von nationaler Bedeutung vorliegen (E. 4.1.3 und E. 4.5). Die Prüfung der nationalen Bedeutung hat zweistufig zu erfolgen, wobei das Bundesgericht folgerte, dass die Entsorgung von Abfällen die Erhaltung der geschützten Landschaft nicht überwiegt (E. 4.5.2 f.).
Vorliegend handelt es sich um eine Sondernutzungsplanung, die eine Umweltverträglichkeitsprüfung gemäss Art. 5 Abs. 3 UPV i.V.m. Art. 10a Abs. 1 und Art. 10b USG verlangt (E. 5.3). Da die wichtigsten Parameter bereits im Rahmen der Sondernutzungsplanung festgelegt wurden, konnte die Umweltverträglichkeitsprüfung nicht aufgeschoben werden, zumal diese für die Prüfung von Alternativen und Varianten notwendig gewesen wäre (E. 5.4 f.).