Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir – konkret Paul Stübi – wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen.
30.10.2023 – 03.11.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
6B_821/2021* (06.09.2023): Mehrfache qualifizierte grobe Verletzung der Verkehrsregeln usw., Hausdurchsuchung, Verwertbarkeit von Beweismitteln
Das Bundesgericht hatte die Frage zu klären, ob es sich bei der Hausdurchsuchung um eine unzulässige Beweisausforschung (sog. „fishing expedition“) handelt oder ob die Videos einen Zufallsfund darstellen. Das Bundesgericht kommt nach Darstellung der einschlägigen Lehre und Rechtsprechung zum Schluss, dass es sich im konkreten Fall um eine unzulässige Beweisausforschung im Sinne einer „fishing expedition“ handelt. Es erachtet die Hausdurchsuchung angesichts der bereits hinreichend dokumentierten Straftat weder als für die Aufklärung der Straftat geeignet noch erforderlich. Auch mit anderen Strassenverkehrsdelikten konnte die Hausdurchsuchung nicht gerechtfertigt werden. Die Hausdurchsuchung sowie die Beschlagnahme der GoProKamera und SD-Karte waren somit unzulässig. Gestützt auf die Interessenabwägung nach Artikel 141 Absatz 2 StPO bejaht das Bundesgericht jedoch die Verwertbarkeit der unzulässig erlangten Beweismittel für jene Delikte, die aufgrund der konkreten Sachverhaltselemente schwere Straftaten im Sinne dieser Rechtsnorm darstellen.
2C_457/2023* (15.09.2023): Vorbereitungshaft nach Art. 76a AIG (Dublin-Verfahren)
Gegenstand des vorliegenden Entscheides war die Frage, ob die Vorinstanz auf das Haftüberprüfungsgesuch gemäss Art. 80a Abs. 3 AIG nicht eintreten durfte, nachdem der Beschwerdeführer einen „Verzicht auf gerichtliche Überprüfung“ abgegeben haben soll (E. 3.). Vorliegend wurde dem Beschwerdeführer am 10. August 2023 durch das Migrationsamt mit Verfügung eröffnet, dass er in Dublin-Haft genommen werde. Auf der letzten Seite der Verfügung hatte er die Möglichkeit, ein Kreuz zu setzen entweder bei „Ich beantrage die gerichtliche Überprüfung der Haft“ oder „Ich verzichte auf die gerichtliche Überprüfung der Haft“ (Art. 105 Abs. 2 BGG) (E. 4.6.). Das zweite Kreuz kann laut Bundesgericht jedoch lediglich bedeuten, dass der Beschwerdeführer für den Moment auf die Ausübung seines Rechts verzichtet, nicht aber, dass er dauerhaft auf das Recht an sich verzichtet. Er kann jederzeit auf seinen Entscheid zurückkommen, sein Recht auf gerichtliche Überprüfung ausüben und diese verlangen. Dies hat er nach zwei Wochen Haft getan. Die „jederzeitige“ gerichtliche Überprüfung ist verfassungs-, konventions- und gesetzesrechtlich (Art. 80a Abs. 3 AIG) explizit vorgesehen (E. 4.1.-4.3., 4.8.). Die Vorinstanz durfte somit nicht auf die Überprüfung der Haft verzichten und hätte auf das Gesuch um Haftüberprüfung eintreten müssen (E. 4.9.).
16.10.2023 – 20.10.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Cathrin Christian
4A_428/2022 (15.09.2023): Obligationenrecht, Abtretung; Vertragsauslegung
In vorliegenden Entscheid befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, ob eine Verrechnungserklärung erstmals vor Bundesgericht ins Verfahren eingebracht werden kann. Nach eingehender Diskussion lehnt das Bundesgericht dieses Vorgehen ab (E. 5.5.3): Soweit die Verrechnung erklärt werden muss, damit sie Wirkung entfaltet (Art. 124 Abs. 1 OR), würde eine Berücksichtigung vor Bundesgericht voraussetzen, dass die Partei vor der Vorinstanz prozesskonform eine Verrechnungserklärung behauptet hat. Daran fehlt es, wenn die Verrechnung erst vor Bundesgericht erklärt wird. Eine Verrechnungserklärung vor Bundesgericht kann die Verrechnung an sich bewirken, ist im Ergebnis aber analog zu behandeln wie eine nach Ausfällung des angefochtenen Entscheides erfolgte Zahlung. Ein anderes Ergebnis widerspräche nicht nur dem Willen des Gesetzgebers, es liesse sich auch mit Blick auf die und dem Erfordernis der materiellen Ausschöpfung des Instanzenzuges nicht rechtfertigen.
9C_259/2023 (18.09.2023): Krankenversicherung, Krankenversicherung
Das Bundesgericht überprüfte die Beschwerde eines Arztes, welcher zuvor vom Schiedsgericht in Krankenversicherungsstreitigkeiten des Kantons Basel-Landschaft zur Honorarrückerstattung für mehrere Jahre verurteilt wurde. Dabei klagten mehrere Versicherungen gegen den Arzt aufgrund wiederholter Unwirtschaftlichkeit. Der Arzt legte gegen das Urteil Beschwerde ein und beantragte, die Klagen abzuweisen oder die Sache zur weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Nachdem das Bundesgericht die Beschwerde geprüft hatte, stellte es fest, dass das Schiedsgericht die ANOVA-Methode zur Kontrolle der Wirtschaftlichkeit der Praxistätigkeit des Arztes rechtmässig angewendet hatte. Die Beschwerde wurde abgewiesen.
09.10.2023 – 13.10.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
2C_694/2021* (08.09.2023): Disziplinarverordnung der Universität Zürich
Vorliegend war zu prüfen, wie weit die Autonomie der Universität Zürich als öffentlich-rechtliche Anstalt des Kantons mit eigener Rechtspersönlichkeit reicht. Von Interesse war insbesondere, ob die Autonomie der Universität Zürich auch Disziplinarmassnahmen in Form von Geldleistungen bis zu CHF 4’000.00 erfasst (E. 4.2). Das Bundesgericht erwog, dass generell-abstrakte Normen grundsätzlich vom zuständigen Organ zu erlassen sind, vorbehältlich einer gültigen Gesetzesdelegation (E. 5.2). Inwiefern Sanktionen eine formellgesetzliche Grundlage bedürfen, ist nicht abschliessend geklärt. Die Lehre vertritt die Meinung, dass zumindest schwere Disziplinarmassnahmen einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedarf (E. 5.4). Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass Geldstrafen in der Höhe von bis zu CHF 4’000.00 für Studierende, welche in der Regel ein durchschnittliches Einkommensverhältnis haben, einschneidende wirtschaftliche Folgen haben können. Dieser drohende Nachteil wird überdies verstärkt, dass die Disziplinarverordnung bei Nichtbezahlen ein Studienausschluss vorsieht (E. 5.5). Weiter führte das Bundesgericht aus, dass vom Umstand, dass auch die Kantone St. Gallen und Freiburg solche Sanktionen kennen, nichts abgeleitet werden kann. Vorgenannte Kantone haben dies auf formellgesetzlicher Stufe geregelt, was ein Indiz dafür ist, dass es sich um eine schwere Disziplinarmassnahme handelt (E. 5.5). Die Art und Weise wie die Sanktion in der Praxis gehandhabt wird, sei überdies nicht eine Frage der gesetzlichen Grundlage, sondern der Verhältnismässigkeit, weshalb die Universität Zürich daraus ebenfalls nicht ableiten könne (E. 5.5).
02.10.2023 – 06.10.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
8C_307/2022* (04.09.2023): Formlose Streichung der Sozialhilfe nicht zulässig
Einem Sozialhilfebezüger aus dem Kanton Neuenburg wurde aufgrund fehlender Mitwirkung bei der Abklärung seiner finanziellen Verhältnisse formlos die Sozialhilfe gestrichen. Konkret reichte er keine Unterlagen zu seiner schwangeren Konkubinatspartnerin ein. Folglich konnte der Unterstützungsbedarf der Familie insgesamt nicht abgeklärt werden.
Laut Bundesgericht sei die Streichung der Sozialhilfe per se nicht zu beanstanden, da die finanzielle Situation des Betroffenen und seiner Partnerin nicht geklärt werden konnte. Weil die Aufhebung der Sozialhilfe für Leistungsbezüger einschneidende Auswirkungen hat, muss dieser Schritt allerdings im Rahmen eines formellen, anfechtbaren Entscheides erfolgen. Eine bloss informelle Beendigung der Auszahlung der Sozialhilfe ist dagegen nicht zulässig. Im konkreten Fall hat die Behörde die Leistung von Sozialhilfe per Anfang März 2021 formlos eingestellt, weil der Betroffene nicht reagiert hatte. Erst im Sommer ergingen zwei formelle Entscheide, mit denen die Sozialhilfe rückwirkend aufgehoben wurde. Dieses Vorgehen war nicht zulässig. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Betroffene ab März 2021 Anspruch auf die gleichen Sozialhilfeleistungen hat wie zuvor.