Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir – konkret Paul Stübi – wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen.
09.10.2023 – 13.10.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
2C_694/2021* (08.09.2023): Disziplinarverordnung der Universität Zürich
Vorliegend war zu prüfen, wie weit die Autonomie der Universität Zürich als öffentlich-rechtliche Anstalt des Kantons mit eigener Rechtspersönlichkeit reicht. Von Interesse war insbesondere, ob die Autonomie der Universität Zürich auch Disziplinarmassnahmen in Form von Geldleistungen bis zu CHF 4’000.00 erfasst (E. 4.2). Das Bundesgericht erwog, dass generell-abstrakte Normen grundsätzlich vom zuständigen Organ zu erlassen sind, vorbehältlich einer gültigen Gesetzesdelegation (E. 5.2). Inwiefern Sanktionen eine formellgesetzliche Grundlage bedürfen, ist nicht abschliessend geklärt. Die Lehre vertritt die Meinung, dass zumindest schwere Disziplinarmassnahmen einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedarf (E. 5.4). Das Bundesgericht stützt die Ansicht der Vorinstanz, dass Geldstrafen in der Höhe von bis zu CHF 4’000.00 für Studierende, welche in der Regel ein durchschnittliches Einkommensverhältnis haben, einschneidende wirtschaftliche Folgen haben können. Dieser drohende Nachteil wird überdies verstärkt, dass die Disziplinarverordnung bei Nichtbezahlen ein Studienausschluss vorsieht (E. 5.5). Weiter führte das Bundesgericht aus, dass vom Umstand, dass auch die Kantone St. Gallen und Freiburg solche Sanktionen kennen, nichts abgeleitet werden kann. Vorgenannte Kantone haben dies auf formellgesetzlicher Stufe geregelt, was ein Indiz dafür ist, dass es sich um eine schwere Disziplinarmassnahme handelt (E. 5.5). Die Art und Weise wie die Sanktion in der Praxis gehandhabt wird, sei überdies nicht eine Frage der gesetzlichen Grundlage, sondern der Verhältnismässigkeit, weshalb die Universität Zürich daraus ebenfalls nicht ableiten könne (E. 5.5).
02.10.2023 – 06.10.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
8C_307/2022* (04.09.2023): Formlose Streichung der Sozialhilfe nicht zulässig
Einem Sozialhilfebezüger aus dem Kanton Neuenburg wurde aufgrund fehlender Mitwirkung bei der Abklärung seiner finanziellen Verhältnisse formlos die Sozialhilfe gestrichen. Konkret reichte er keine Unterlagen zu seiner schwangeren Konkubinatspartnerin ein. Folglich konnte der Unterstützungsbedarf der Familie insgesamt nicht abgeklärt werden.
Laut Bundesgericht sei die Streichung der Sozialhilfe per se nicht zu beanstanden, da die finanzielle Situation des Betroffenen und seiner Partnerin nicht geklärt werden konnte. Weil die Aufhebung der Sozialhilfe für Leistungsbezüger einschneidende Auswirkungen hat, muss dieser Schritt allerdings im Rahmen eines formellen, anfechtbaren Entscheides erfolgen. Eine bloss informelle Beendigung der Auszahlung der Sozialhilfe ist dagegen nicht zulässig. Im konkreten Fall hat die Behörde die Leistung von Sozialhilfe per Anfang März 2021 formlos eingestellt, weil der Betroffene nicht reagiert hatte. Erst im Sommer ergingen zwei formelle Entscheide, mit denen die Sozialhilfe rückwirkend aufgehoben wurde. Dieses Vorgehen war nicht zulässig. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Betroffene ab März 2021 Anspruch auf die gleichen Sozialhilfeleistungen hat wie zuvor.
25.09.2023 – 29.09.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Deborah Kaderli
4A_299/2023* (01.09.2023): Ausstand, verspätete Geltendmachung
Im vorliegenden Fall erliess der leitende Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Winterthur als (nebenamtlicher) Ersatzrichter und Referent sämtliche Verfügungen. Ferner leitete er die Instruktionsverhandlung vom 3. November 2021. Mit Gesuch vom 12. Dezember 2022 verlangte die Klägerin den Ausstand. Das Ausstandsgesuch hat unverzüglich zu erfolgen, ansonsten das Recht verwirkt (E. 2.2). Die Klägerin bringt vor, sie habe erst mit dem Bundesgerichtsurteil 1B_519/2022 vom 1. November 2022 vom Ausstandsgrund Kenntnis erhalten (E. 3.1). Das Bundesgericht hielt fest, dass grundsätzlich die rechtliche Beurteilung, die das Gericht vornimmt, nicht als fristauslösenden Moment zu betrachten ist. Hier würde aber eine Besonderheit bestehen, da erst mit Urteil vom 9. September 2022 (1B_420/2022) richterlich festgestellt wurde, dass der Einsatz von Gerichtsschreibern als Ersatzrichter in der gleichen Kammer als Einbruch in die richterliche Unabhängigkeit gesehen werden kann. Vorliegend sei das Gesuch aber dennoch verspätet, da seit diesem Urteil über zwei Monate vergangen sind (E. 3.4). Ferner prüfte das Bundesgericht, ob der Ausstandsgrund derart offensichtlich war, dass der Richter von sich aus hätte in den Ausstand treten müssen. Dies verneinte es mit der Begründung, dass der vorliegende Fall nicht identisch ist mit jenen Präjudizien vom 22. September 2022 und vom 1. November 2022 (E. 4.1 und 4.3).
9C_610/2022* (07.09.2023): Emissionsabgabe, Abgabeperiode 2015
Im Rahmen einer Sanierungsmassnahme wurde das Stammkapital der betroffenen Gesellschaft von CHF 1’500’000.00 auf 2’000’0000.00 erhöht, wobei die Liberierung mittels Verrechnung von Passivdarlehen, die zugunsten der Aktionärin bestanden, erfolgte (sog. Verrechnungsliberierung). Die Aktionärin leistete einen Zuschuss (Agio) von CHF 1’083’865’098.15, welcher den Reserven zugeschrieben wurde. In der Folge war streitig, ob der Freibetrag bei der Emissionsabgabe gemäss Art. 6 Abs. 1 lit. k StG nur erlaubt sei, wenn der Verlust beseitigt wurde. Steuerobjekt der Stempelabgabe im eigentlichen Sinne ist das der Urkunde unterliegende Rechtsverhältnis. Folglich ist eine formell-zivilrechtliche Betrachtungsweise heranzuziehen (E. 2.2.2 f.). Damit ein Freibetrag im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. k StG gewährt wird, muss «der bestehende Verlust beseitigt werden». Aus betriebswirtschaftlicher Sicht spielt es keine Rolle, ob der Zuschuss zur Ausbuchung des Verlustvortrages oder als Kapitalreserve verwendet wird (E. 3.3.3 ff.). Vorliegend wird aber eine formell-zivilrechtliche Betrachtungsweise verlangt (E. 2.2.4). Indem der Gesetzgeber die Bedingung der «Verlustbeseitigung» verlangt, hat er die Erwartung geschaffen, dass der Verlust auch tatsächlich ausgebucht wird. Ansonsten würde die Bedingung sinnentleert (E. 3.3.6). Folglich verlangt Art. 6 Abs. 1 lit. k StG nebst der Sanierung und Leistung von höchstens CHF 10’000’000.00 auch die tatsächliche Ausbuchung des Verlustvortrages (E. 3.4.1).
4A_263/2023* (11.09.2023): Miete; vereinfachtes Verfahren; Zuständigkeit des Handelsgerichts
Die Parteien führten diverse Verfahren im Zusammenhang mit der Verlängerung bzw. Beendigung der Miete von Ladenflächen. In casu klagte die Vermieterin vor dem Handelsgericht des Kantons Zürich auf Bezahlung der Differenz des marktüblichen Entgelts für die Miete. Fraglich war, ob die vorliegende Klage unter den Begriff des «Kündigungsschutzes» fällt und somit im vereinfachten Verfahren zu beurteilen sei. Das Handelsgericht bejahte dies mit dem Argument, dass für den fraglichen Zeitraum ein Erstreckungsverfahren zwischen den Parteien hängig war. Auch wenn dieses Verfahren infolge Auszuges der Mieterin gegenstandslos geworden sei, sei zumindest vorfrageweise zu prüfen, ob die Mieterin Anspruch auf Erstreckung gehabt hätte (E. 2.4). Das Bundesgericht verneinte die Ansicht der Vorinstanz. Bei Forderungen aus einem bereits beendeten Mietverhältnis fehle es regelmässig an dem für den Bereich des Kündigungsschutzes typischen Machtgefälle zwischen den Vertragsparteien sowie an der zeitlichen Dringlichkeit, weshalb die Anwendung des (streitwertunabhängigen) vereinfachten Verfahrens nicht erforderlich sei. Inwiefern das Erstreckungsverfahren Bindungswirkung zeigt, sei nicht auf der Verfahrensebene, sondern bei der materiellen Anspruchsprüfung zu beurteilen (E. 2.5).
Nachträge Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
4A_232/2022* (22.12.2022): IPRG / Schiedsgerichtsbarkeit / Zuständigkeit des TAS und seiner Kammern
Vor Bundesgericht rügte der Beschwerdeführer die Zusammensetzung und die Zuständigkeit der CAD TAS (Anti-Doping-Kammer des TAS) und der CAA TAS (Berufungskammer des TAS ) (Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG). Gestützt auf Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG kann nur die Zuständigkeit eines Schiedsgerichts in Frage gestellt werden (E. 5.9.1). Vorliegend hat die CAD nicht als Schiedsgericht entschieden. Die Parteien haben nicht die normalerweise zuständige staatliche Gerichtsbarkeit zugunsten der CAD TAS ausgeschlossen, sondern die CAD TAS hat die ihr von der Beschwerdegegnerin (IBU) delegierte Disziplinargerichtsbarkeit ausgeübt (E. 5.9.2.3). Die Rüge einer Verletzung von Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG ist folglich unzulässig, da sie auf eine indirekte Überprüfung der Zuständigkeit der CAD TAS abzielt (E. 5.9.4).
2C_407/2021* (23.12.2021): BGG / abstrakte Normenkontrolle / Beschwerdemöglichkeit bei Aufhebung eines Erlasses durch ein kantonales Gericht
Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle können kantonale und kommunale Erlasse grundsätzlich direkt beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 82 lit. b BGG). Den Kantonen steht es jedoch frei, ein kantonsinternes Beschwerdeverfahren zu schaffen (vgl. Art. 87 Abs. 2 BGG). Ob gegen die Aufhebung eines Erlasses durch ein kantonales Gericht die Beschwerde ans Bundesgericht offensteht, wurde unter Geltung des BGG noch nicht entschieden. Wird eine Rechtsänderung aufgehoben, liegt kein «kantonaler Erlass» (Art. 82 lit. b BGG) mehr vor, zudem fehlt es gewöhnlich an der Beschwerdelegitimation (Art. 89 Abs. 1 lit. b und c BGG).
5A_452/2021* (14.12.2022): SchKG / Konkurseröffnung / Drittgläubigeranfechtung
Wenn ein (Betreibungs-)Gläubiger an einem Konkurseröffnungsverfahren nicht teilgenommen hat, im konkreten Fall weil der Konkurs über den Schuldner gestützt auf eine Insolvenzerklärung eröffnet wurde, kann dieser Drittgläubiger die Konkurseröffnung dennoch mit der Rüge anfechten, der Konkurs sei nicht am richtigen Ort eröffnet worden.
6B_1083/2021* (16.12.2022): StGB / StPO / Grundsatz der Unteilbarkeit
Zwei Beschwerdeführer haben in Genf einen Strafbefehl wegen Hausfriedensbruchs akzeptiert. Nachdem die Beschwerdeführer den Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen liessen, wurde die Strafanzeige von den Eigentümern der Liegenschaft zurückgezogen. Die Beschwerdeführer rügen zuletzt mit Beschwerde in Strafsachen, dass der in ihrem Fall erst nach Rechtskraft erfolgte Rückzug des Strafantrags in analoger Anwendung von Art. 392 und Art. 356 Abs. 7 StPO zur Aufhebung der sie betreffenden Strafbefehle führe und die Nichteinstellung der Verfahren den Grundsatz der Unteilbarkeit des Strafantrags gemäss Art. 32 und Art. 33 StGB verletzten. Der Wegfall einer Voraussetzung für die Eröffnung der Strafverfolgung, wie etwa ein Rückzug des Strafantrags, der erst nach Rechtskraft des Urteils bzw. des Strafbefehls eintritt, stellt keinen Revisionsgrund dar.
2C_849/2021* (17.01.2023): BGG/Abgrenzung von Privatrecht und öffentlichem Recht / Kinderbetreuung
Zwei Genfer Eltern schicken ihre Tochter in eine Kindertagesstätte, die von einem privaten, aber städtisch subventionierten Verein betrieben wird. Am 22. Januar 2022 wurden ihnen die Höhe der zu bezahlenden Gebühren mitgeteilt. Auf eine dagegen erhobene Beschwerde trat das kantonale Verwaltungsgericht nicht ein, da das Verhältnis zwischen den Eltern und der Kindertagesstätte privatrechtlich sei.
Wenn es darum geht, die Rechtsnatur eines Vertrags zu bestimmen, ist in erster Linie auf den Vertragsgegenstand abzustellen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der (privaten oder öffentlichen) Interessen und der Funktion des Vertrages. Wer die Vertragsparteien sind oder ob ein Subordinationsverhältnis besteht, ist demgegenüber nicht entscheidend. Im Kanton Genf ist es zwar Staatsaufgabe, für ein ausreichendes Angebot an Kindertagesstätten zu sorgen, nicht aber, die eigentliche Kinderbetreuung durchzuführen (Art. 200–203 KV/GE). Demgegenüber richten sich die Gebühren für subventionierte Kindertagesstätten in der Stadt Genf nach städtisch festgelegten, sozialpolitisch motivierten Tarifen (Art. 13 Abs. 1 des einschlägigen Gemeindereglements). Vorliegend geht es allein um die Höhe dieser sich auf kommunales Recht abstützenden Gebühren (und nicht bspw. um die Betreuungsbedingungen), womit der Streit öffentlich-rechtlicher Natur ist.
6B_1362/2021* (26.01.2023): StGB / StPO / Entschädigung des amtlichen Verteidigers / Beizug eines Sachverständigen / Verschlechterungsverbot
Der Beschwerdeführer beantragt, seine Entschädigung sei «auf das Total der in Rechnung gestellten Stunden gemäss der der ersten Instanz eingereichten Liste» zu stützen. Nach kantonalem Recht prüft der Richter den Umfang der Vorkehren, die für die Prozessführung notwendig sind (Art. 2 Abs. 1 RAJ/VD). Wenn der amtliche Verteidiger seine Aktivitäten nicht detailliert dargelegt hat, erhält er eine angemessene Entschädigung, die sich nach dem geschätzten benötigten Zeitaufwand bemisst (Art. 3 Abs. 2 RAJ/VD). Die Zuständigkeit liegt beim urteilenden Gericht (Art. 135 Abs. 2 StPO; Art. 2 Abs. 1 RAJ/VD). Da der Beschwerdeführer seine Aktivitäten vor beiden Instanzen nur global aufgelistet und weder datiert noch näher beschrieben hatte, wird erwogen, bei gleicher tatsächlicher und rechtlicher Komplexität dem Beschwerdeführer die gleiche Entschädigung zuzusprechen wie dem amtlichen Verteidiger des Mitangeklagten im Verfahren. In diesem Kontext hat die Vorinstanz das kantonale Recht nicht willkürlich angewendet.
Eventualiter beantragt der Beschwerdeführer die Festsetzung der Entschädigung auf den erstinstanzlich zugesprochenen Betrag, indem er eine Verletzung des Verschlechterungsverbots geltend macht. Die Anwendung des Verschlechterungsverbots ist – analog zur Regelung, die Art. 391 Abs. 3 StPO im Zivilpunkt für die Privatklägerschaft vorsieht – gerechtfertigt, dies umso mehr als die Staatsanwaltschaft die Höhe der Entschädigung für die amtliche Verteidigung im Berufungsverfahren anfechten und damit eine Aufhebung des Verbots erwirken kann.
5A_433/2022* (24.11.2022): SchKG / definitive Rechtsöffnung
Das Bundesgericht entscheidet, dass die im Rahmen der definitiven Rechtsöffnung zugesprochenen Prozesskosten nicht Gegenstand einer separaten Betreibung sein können, wenn die Jahresfrist für das Fortsetzungsbegehren unbenutzt verstrichen ist.
9C_643/2021* (17.01.2023): Covid-19 / Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft
Die Beschwerdegegnerin, eine Shiatsu-Therapeutin, bot ihre Dienste seit zehn Jahren dem Personal einer Waadtländer Schule an. Ab Beginn des Schuljahrs 2021 arbeitete mindestens die Hälfte der Mitarbeitenden der Schule im Homeoffice (Fernunterricht), was zu einer Verringerung der Tätigkeit der Beschwerdegegnerin führte. Die beschwerdeführende Ausgleichskasse vertritt die Ansicht, es handle sich beim von der Schule eingeführten Homeoffice nicht (mehr) um eine von einer Behörde angeordnete Massnahme. Das Bundesgericht stellt fest, dass laut der damaligen Richtlinie der Schule Homeoffice in allen Situationen, die nicht unbedingt die Anwesenheit auf dem Campus erforderten, die Regel sein sollte. Folglich war die geltend gemachte Einkommenseinbusse der Therapeutin im Umfang von 47% mit Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus verbunden. Sie war mithin also indirekt von den Massnahmen betroffen.
5A_881/2022* (02.02.2023): ZGB / Antrag auf Vollzug einer Schutzmassnahme / elektronische Überwachung / Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege für das kantonale Beschwerdeverfahren
Das Bundesgericht bejaht die Verhältnismässigkeit (Eignung) einer elektronischen Überwachung zur Vollstreckung eines Kontaktverbots gegenüber der Ex-Frau, obwohl der Mann wiederholt die Anordnungen der Behörden missachtet hatte. Entgegen der Vorinstanz und den Ausführungen der Botschaft ist eine elektronische Überwachung auch dann eine geeignete Massnahme, wenn ein Risiko besteht, dass sich der Gefährder dadurch nicht davon abhalten lässt, erneut Gewalttaten zu begehen. Andernfalls würde die Bestimmung unanwendbar.
9C_592/2021* (24.01.2023): IVG / Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art
Versicherte, die ihre Berufswahl getroffen haben, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfang zusätzliche Kosten entstehen, haben gemäss Art. 16 Abs. 1 IVG Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung ihren Fähigkeiten entspricht. Das entsprechende Gesuch um solche Leistungen lehnte die IV-Stelle des Kantons Genf mit der Begründung ab, dass der Beschwerdeführer die Versicherungsbedingungen in Bezug auf die Beitragsdauer oder die Anzahl der Wohnjahre in der Schweiz zum Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität nicht erfülle. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 8 und Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 Abs. 2 BV geltend. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bezieht sich das in Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Privatleben nicht auf Bildungsmassnahmen für behinderte Kinder, insbesondere nicht auf die berufliche Erstausbildung eines minderjährigen Kindes. Zwar ist unbestritten, dass eine berufliche Erstausbildung auch darauf abzielt, die Entwicklung der Personen, die sie erhalten, zu fördern. Doch die Verweigerung einer solchen (beruflichen) Ausbildung verhindert oder erschwert nicht die Ausübung eines der Teilgehalte des Rechts auf persönliche Entwicklung, die von Art. 8 EMRK erfasst sind. Auch wenn der Begriff des Privatlebens nach der Rechtsprechung des EGMR ein weiter Begriff ist, der nicht abschliessend definiert werden kann, deckt die Garantie von Art. 8 Abs. 1 EMRK unter dem Aspekt der Entwicklung der Persönlichkeit ohne äussere Eingriffe nicht den Bereich der beruflichen Erstausbildung ab. Der vorliegende Sachverhalt fällt daher nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung.
2C_255/2022* (07.02.2023): Rechtshilfe in Strafsachen / Beschlagnahmung von Vermögenswerten / Zusammenarbeit mit Russland
Aufgrund eines russischen Rechtshilfeersuchens wurden 2020 Vermögenswerte einer AG bei einer Genfer Bank beschlagnahmt. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine suspendierte die Schweiz die Behandlung russischer Rechtshilfegesuche bis auf Weiteres.
Die Schweiz ist immer noch verpflichtet, soweit wie möglich Rechtshilfe zu leisten (Art. 1 Ziff. 1 EUeR; Art. 7 Abs. 1 Geldwäschereiübereinkommen). Sie hat daher die notwendigen Massnahmen zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen für den Fall zu ergreifen, dass sich die Beziehungen zu Russland zukünftig wieder normalisieren sollten. Da die Beschlagnahme zu einem Zeitpunkt angeordnet wurde, als die Rechtshilfe nicht offensichtlich unzulässig oder unangebracht war, sind die Voraussetzungen für vorläufige Massnahmen (Art. 18 Abs. 1 IRSG) erfüllt. Die Beschlagnahme muss während der Aussetzung der Rechtshilfezusammenarbeit aufrechterhalten werden. Die Situation entspricht derjenigen bei formell mangelhaften Rechtshilfeersuchen (Art. 28 Abs. 6 IRSG). Damit die Beschlagnahme verhältnismässig bleibt, muss sich das BJ jedoch regelmässig über die Entwicklung erkundigen und die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts darüber informieren, damit diese über eine Wiederaufnahme des Verfahrens entscheiden kann. Sollte die aktuelle Situation ohne Aussicht auf Veränderung andauern, muss die Beschlagnahme aufgehoben werden.
1C_240/2021* (27.01.2021): Raumplanungsrecht / Richtplan / verbindliche Festsetzung / Energierecht / vorfrageweise Überprüfung des Richtplanes
Im Rahmen der Vorprüfung des Richtplans hatte der Bund zuvor eine verbindliche Festsetzung (Art. 5 Abs. 2 lit. a, Art. 15 Abs. 2 und 3 RPV) als voraussichtlich nicht genehmigungsfähig bezeichnet. Die Gemeinde Le Chenit erliess dennoch einen Sondernutzungsplan für das Projekt «Eoljoux», das kantonale Verwaltungsgericht hob diesen jedoch auf. Die Gemeinde Le Chenit erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Vorhaben mit gewichtigen Auswirkungen auf Raum und Umwelt bedürfen einer Grundlage im Richtplan (Art. 8 Abs. 2 RPG). Der Richtplan bezeichnet zudem die für die Nutzung erneuerbarer Energien geeigneten Gebiete und Gewässerstrecken (Art. 8b RPG). Rechtsprechungsgemäss setzt die richtplanerische Verankerung von Grossvorhaben voraus, dass diese i.S.v. Art. 5 Abs. 2 lit. a RPV verbindlich festgesetzt wurden. Der Richtplan muss Angaben zu deren Standort und Umfang enthalten, die auf einer umfassenden, begründeten und stufengerechten Interessenabwägung beruhen. Zwar erlaubt Art. 12 EnG seit 2018 für Energieprojekte, die wie vorliegend von nationalem Interesse sind (vgl. Art. 9 Abs. 2 EnV), vom Grundsatz abzuweichen, dass ein Objekt, das in einem Inventar nach Art. 5 NHG aufgeführt ist, ungeschmälert erhalten werden muss. Ein solches Abweichen setzt allerdings eine umfassende Interessenabwägung voraus (vgl. Art. 6 Abs. 2 NHG). Kantonale Richtpläne müssen vom Bundesrat genehmigt werden (Art. 11 RPG). Die bundesrätliche Genehmigung schliesst eine spätere Anfechtung des kantonalen Richtplans nicht aus; umgekehrt ist bei Verweigerung der Genehmigung keine Anfechtung des kantonalen Richtplanbeschlusses möglich, da dieser dann seine rechtliche Existenz verliert. Vorliegend besteht ein genehmigter kantonaler Richtplan. Die Gemeinde Le Chenit kann vorfrageweise überprüfen lassen, ob dieser die materiellen Voraussetzungen für eine Nutzungsplanung enthält, d.h. ob er aufzeigt, inwiefern beim Vorhaben «Eoljoux» eine umfassende Interessenabwägung vorgenommen wurde.
6B_16/2022* (26.01.2023): StGB / StPO / Wiederherstellung Einsprachefrist
Gegen einen Arzt wurde ein Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung erlassen, nachdem sein Patient verstarb. Durch grobes Verschulden der Anwaltssekretärin wurde die Einsprache gegen den Strafbefehl nicht versendet. Nachdem die Staatsanwaltschaft Neuenburg das Gesuch des Beschwerdeführers um Wiederherstellung der Einsprachefrist gegen den Strafbefehl abgewiesen und das Kantonsgericht diesen Entscheid bestätigt hatte, gelangt der Beschwerdeführer ans Bundesgericht. Nach der Rechtsprechung ist grundsätzlich das Fehlverhalten des Anwalts dem Mandanten zuzurechnen. Eine Panne in der internen Organisation des Anwalts stellt in der Regel keine unverschuldete Verhinderung dar, die eine Fristwiederherstellung rechtfertigt. Das Bundesgericht präzisiert sodann seine Rechtsprechung dahingehend, dass die Pflichtverteidigung eine unabdingbare Voraussetzung für eine Fristenwiederherstellung bei grobem Anwaltsverschulden ist.
4A_22/2022* (21.02.2023): Vertragsrecht / Rechtsschutzversicherung / Verjährung eines Haftungsanspruches
Der Schadenersatzanspruch gegenüber dem Rechtsschutzversicherer, der bei der Erteilung von Rechtsberatung seine Sorgfaltspflicht verletzt und dadurch den Versicherten schädigt, richtet sich nicht nach der kürzeren Frist von Art. 46 Abs. 1 VVG, sondern nach der zehnjährigen Frist von Art. 127 OR. Art. 127 OR kommt nur dann zum Tragen, wenn Art. 46 Abs. 1 VVG nicht anwendbar ist (Art. 100 Abs. 1 VVG).
5A_428/2022* (18.01.2023): SchKG / Arrest / Exequatur eines ausländischen Entscheides
Im Rahmen eines Arrestgesuches (Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG) kann das Gericht auch ohne ausdrückliches Begehren einen «LugÜ-Entscheid» für vollstreckbar erklären.
Will der Gläubiger nicht, dass über die Vollstreckbarkeit des «LugÜ-Urteils» endgültig entschieden wird, kann er, statt einen Arrest nach Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG mit gleichzeitiger Exequaturerklärung zu beantragen, einen anderen Arrestgrund (insbesondere denjenigen nach Ziff. 4) geltend machen und dann die ausländische Entscheidung nur vorfrageweise im definitiven Rechtsöffnungsverfahren anerkennen lassen. Falls der Gläubiger den Arrestgrund von Art. 271 Abs. 1 Ziff. 6 SchKG geltend macht, aber eine Entscheidung über die Exequatur-Frage ablehnt, muss sich das Gericht auf eine Abweisung des Arrestbegehrens beschränken.
8C_351/2022* (22.02.2023): Persönliche Freiheit / öffentliches Personalrecht / Sonderstatusverhältnis / Impfpflicht für Militärangehörige
Ein Leutnant gehörte als Berufsmilitär dem Aufklärungsdetachement (ADD) 10 an, das u.a. Spezialeinsätze zum Schutz schweizerischer Personen und Sachen im Ausland ausführt. Weil er sich trotz wiederholter Verwarnungen weigerte, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, wurde er 2021 entlassen. Der Leutnant erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Militärpersonal, das im Rahmen eines Assistenzdienstes im Ausland nach Art. 69 Abs. 2 MG eingesetzt wird, muss sich ärztlich untersuchen lassen sowie Vorsorge- oder Behandlungsmassnahmen vornehmen (Art. 7 PVSPA). Diese Verordnungsbestimmung stützt sich insbesondere auf die allgemeine personalrechtliche Delegationsnorm von Art. 37 Abs. 1 BPG. Aufgrund des Sonderstatusverhältnisses und der Tatsache, dass der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV) insgesamt nur als leicht zu betrachten ist, genügte dies als gesetzliche Grundlage für die Impfpflicht. Als Angehöriger des ADD 10 musste der Beschwerdeführer jederzeit für Spezialeinsätze im Ausland bereitstehen. Der Befehl (Art. 32 MG), sich impfen zu lassen, diente dazu, diese Einsatzfähigkeit angesichts der damals in vielen Ländern geltenden Covid-19-Massnahmen sicherzustellen. Der Impfbefehl war diesbezüglich auch verhältnismässig (Art. 10 BV), zumal die Einsatzbereitschaft des ADD 10 wichtigen öffentlichen Interessen der Schweiz dient.
6B_627/2022* (06.03.2023): StGB / BV / EMRK / Ausweisung / Non-Refoulement-Prinzip
Gegen den im Tibet geborenen und mit 12 Jahren mit seiner Familie in die Schweiz eingereisten Beschwerdeführer wurde wegen diversen Katalogtaten, unter anderem Körperverletzung und Betrug, eine Landesverweisung verhängt. Die Vorinstanz verfügte die Ausweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz «in einen Drittstaat, mit Ausnahme der Volksrepublik China». Indem die Vorinstanz die Ausweisung in «irgendeinen anderen Staat» verfügte, ohne Angabe, welches «Drittland» sie in Betracht zog, hat sie Bundesrecht verletzt. Das kantonale Urteil wird abgeändert und auf die Anordnung der Landesverweisung verzichtet.
6B_777/2022* (14.04.2023): StGB / Rassendiskriminierung / Meinungsäusserungsfeiheit / üble Nachrede und Beschimpfung
Ein französischer Komiker war wegen der Aussage «… die Gaskammern haben nie existiert», die er bei Auftritten in der Westschweiz in einem Sketch gemacht hatte, indem er eine fiktive Person verkörperte, wegen Rassendiskriminierung gemäss Art. 261bis Abs. 4 in fine StGB verurteilt worden.
Die inkriminierte Aussage kommt einer Leugnung bzw. einer groben Verharmlosung des Holocaust gleich und erfüllt – wenn sie öffentlich, d.h. nicht in privatem Rahmen, erfolgt – eines der konstitutiven Elemente von Art. 261bis Abs. 4 StGB. In subjektiver Hinsicht müssen besondere Beweggründe vorliegen, nämlich Hass oder Verachtung gegenüber Personen, die einer bestimmten Rasse, Ethnie oder Religion angehören. Gemäss der Rechtsprechung des EGMR gilt der Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit auch für die Satire, aber nur innerhalb der Grenzen von Art. 10 Abs. 2 EMRK: Das Recht auf Humor erlaubt nicht alles, und wer sich auf die Meinungsäusserungsfreiheit beruft, übernimmt Rechte und Pflichten. Auch kann niemand das Rechtsmissbrauchsverbot gemäss Art. 17 EMRK geltend machen, um eine Handlung zu rechtfertigen, die darauf abzielt, die in der EMRK festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen. Schon deshalb ist fraglich, ob der Beschwerdeführer sich auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen kann: Die inkriminierte Aussage erscheint schon an sich als Ausdruck einer Ideologie, die gegen die von der EMRK anerkannten Rechte und Freiheiten verstösst. Dass sie im Rahmen eines humoristischen Auftritts gemacht wurde, ändert daran nichts. Es gibt keinen Blankocheck, um unter dem Vorwand des künstlerischen Ausdrucks oder der Verwendung einer fiktiven Person negationistische Äusserungen zu machen. Der Wille des Beschwerdeführers, das Leiden der jüdischen Opfer herunterzuspielen, war auch anhand anderer Aussagen im Sketch erkennbar. Seine Geisteshaltung war in der Westschweiz schon länger bekannt und zeigt sich in seinen zahlreichen entsprechenden Verurteilungen im Ausland.
4A_389/2022* (14.03.2023): OR (allgemein) / internationale Rechtshilfe in Zivilsachen
Die Verweigerungsgründe gemäss Art. 12 Abs. 1 lit. b des Haager Beweisaufnahmeübereinkommens (HBewUe70) sind restriktiv auszulegen. Die Begriffe «Gefährdung der Hoheitsrechte» und «Gefährdung der Sicherheit» haben eine engere Bedeutung als die Unvereinbarkeit mit dem nationalen Ordre public des ersuchten Staates.
2C_710/2021* (29.03.2023): RTVG / Verfahrensrecht / Überprüfungsbefugnis der UBI
Während der ersten Covid-Welle berichteten Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI) in zwei Sendungen über die Zustände in einem Altersheim, das (angeblich) besonders stark betroffen war. Dabei wurden u.a. der Heimdirektor und eine im Heim arbeitende Ärztin interviewt. Nun erheben sie Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Die Beschwerdeführer machen geltend, die Journalistinnen hätten sie nicht über den Kontext informiert, in dem ihre Aussagen wiedergegeben werden sollen. Sie hätten einer Ausstrahlung in Sendungen mit hohen Einschaltquoten nie zugestimmt. Eine fehlerhafte Information über den Ausstrahlungskontext von Interviews ist in UBI-Verfahren nur relevant, wenn sie zu einer unsachgerechten Darstellung in einer Radio- oder Fernsehsendung i.S.v. Art. 4 Abs. 2 RTVG beigetragen hat. Eine Überprüfung des Inhalts der beiden Sendungen ergibt indes, dass das Sachgerechtigkeitsgebot nicht verletzt wurde.
2C_810/2021* (31.03.2023): Art. 190 BV / Grundrechte / persönliche Freiheit / Covid-Zertifikatspflicht in Hochschulen
Am 14. September 2021 erliess die Freiburger Kantonsregierung eine Verordnung, wonach Studierende an Veranstaltungen der Freiburger Hochschulen nur mit Covid-Zertifikat teilnehmen konnten. 22 Studierende erhoben Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (abstrakte Normenkontrolle; Art. 82 lit. b BGG) und verlangten die Aufhebung der Regelung. Der Kanton Freiburg machte geltend, es liege ein Anwendungsfall von Art. 190 BV vor, weil nach Art. 19 der Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie Hochschulen entweder ein Covid-Zertifikat verlangen oder bestimmte Massnahmen (Raumbelegung zu zwei Dritteln, Maskenpflicht etc.) verhängen mussten und diese Verordnungsbestimmung ihrerseits auf Art. 6 EpG basierte. Zu Unrecht: Art. 190 BV steht der Aufhebung von kantonalen Verordnungen nur entgegen, soweit diese lediglich verfassungswidrige Inhalte von Bundesgesetzen wiedergeben. Vorliegend waren die Kantone indes nicht verpflichtet, eine Zertifikatspflicht für Hochschulveranstaltungen einzuführen. Weiter ist festzuhalten, dass die Möglichkeit, Hochschulveranstaltungen persönlich zu besuchen, ohne sich einem medizinischen Eingriff zu unterziehen, von der persönlichen Freiheit (Art. 10 BV) geschützt ist. Eine Verhältnismässigkeitsprüfung (Art. 36 BV) ergibt Folgendes: Die angefochtene Regelung stützte sich auf eine genügende gesetzliche Grundlage (jedenfalls soweit sie eine Testpflicht statuierte) und lag im öffentlichen Interesse. Sie war zudem geeignet und notwendig, um ihr Ziel zu erreichen. Hingegen fehlt es an der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne, und zwar deshalb, weil die Studierenden ihre Covid-Tests selbst bezahlen mussten. Bei zweiwöchigen Tests hätten sich die Kosten auf Fr. 840.– pro Semester belaufen, womit finanzschwächere Studierende gezwungen gewesen wären, sich zu impfen, wenn sie Präsenzveranstaltungen besuchen wollten.
6B_620/2022* (30.03.2023): StGB / Strafmilderung (achtenswerte Beweggründe, schwere seelische Bedrängnis, grosse seelische Belastung) / Sachbeschädigung
Zu prüfen war, ob und inwieweit bei einem Klimaaktivisten, der bei einer Demonstration die Fassade einer Bank beschädigt hatte, Strafmilderungsgründe gemäss Art. 48 lit. a Ziff. 1 (achtenswerte Beweggründe), Art. 48 lit. a Ziff. 2 (grosse Bedrängnis) und Art. 48 lit. c (grosse seelische Belastung) StGB berücksichtigt werden können. Bei den für ihre Taten verurteilten Klimaaktivisten kann nicht unter allen Umständen ein achtenswerter Beweggrund anerkannt werden. Die genannten Strafmilderungsgründe sind auf jeden Fall auszuschliessen, wenn Gewalt angewendet und Sachschaden verursacht wird oder Gefahr für Leib und Leben besteht.
9C_689/2022* (12.04.2023): Legalitätsprinzip im Abgabenrecht / Quellensteuer / satzbestimmendes Einkommen bei Teilzeitbeschäftigung (unter altem Recht)
Eine Genfer AG beschäftigte französische Ärztinnen und Ärzte, die auf Abruf Hausbesuche bei Patientinnen und Patienten durchführten. Die Entlöhnung erfolgte auf Honorarbasis und war stark schwankend. Im Rahmen eines Nachsteuerverfahrens wurde ihr vorgeworfen, sie habe von 2008 bis 2013 zu wenig Quellensteuern bezahlt. Strittig war im Wesentlichen, inwieweit die Arztlöhne zur Berechnung des satzbestimmenden Einkommens hätten aufgerechnet werden müssen. Der Entscheid der Vorinstanz verletzt schlussendlich das abgaberechtliche Legalitätsprinzip (Art. 127 Abs. 1 BV).
6B_1206/2021* (30.03.2023): EMRK / StGB / Kontrolle der Korrespondenz durch die Strafvollzugsanstalt
- wurde im März 2018 erstinstanzlich verurteilt und unter anderem der schweren sexuellen Nötigung und Vergewaltigung, der sexuellen Handlungen mit Kindern und des Inzests für schuldig befunden. Im August 2019 wurden vom Gefängnis, in dem er inhaftiert ist, drei Briefe von seiner Mutter und seinem Bruder beschlagnahmt, in denen sich Fotos von seinen Kindern befanden. Das Gefängnis betonte, dass die Fotos nur weitergegeben würden, wenn eine klare Zustimmung von jedem der betroffenen Opfer oder deren Vertretern vorliegen würde. Das kantonale Gericht hielt bereits fest, dass die Schwere der Taten, die den meisten seiner Kinder widerfahren sind, einen erhöhten Schutz rechtfertigt. Das Interesse der Kinder, dass ihre Fotos nicht widerrechtlich in die Hände des Vaters gelangen, hat eindeutig Vorrang vor dem Interesse des Beschwerdeführers. Die unautorisierte Weitergabe dieser Fotos würde ihre Persönlichkeitsrechte verletzen.
6B_782/2022* (17.04.2022): StGB / Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht / Verjährung
Der Beschwerdeführer war wegen Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht gemäss Art. 219 StGB, begangen zwischen August 2008 bis Ende 2014, verurteilt worden. Das erstinstanzliche Urteil erging am 17. September 2021. Er macht die Verjährung der ihm vorgeworfenen Handlungen geltend und behauptet, gemäss Art. 97 aStGB seien Sachverhalte, die sich vor dem 17. September 2014 zugetragen hätten, verjährt.
Wenn der Täter die strafbare Tätigkeit zu verschiedenen Zeiten ausführt, beginnt die Verjährung gemäss Art. 98 lit. b aStGB mit dem Tag, an dem er die letzte Tätigkeit ausführt. Die Rechtsprechung zu dieser Norm hat im Laufe der Zeit geändert. Seit BGE 131 IV 83 geht das Bundesgericht von der Rechtsfigur der rechtlichen oder natürlichen Handlungseinheit aus. Rechtliche Handlungseinheit liegt vor, wenn der Tatbestand begrifflich, faktisch oder typischerweise mehrere Einzelhandlungen voraussetzt, z.B. Raub, oder aber ein länger dauerndes Verhalten, das aus mehreren Einzelhandlungen besteht, z.B. Misswirtschaft oder politischer oder wirtschaftlicher Nachrichtendienst. Die Einzelhandlungen oder das länger dauernde Verhalten müssen von der gesetzlichen Definition des Straftatbestands ausdrücklich oder implizit mitumfasst sein, und die Handlungen müssen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausgeführt werden. Natürliche Handlungseinheit besteht aus Einzelhandlungen, die auf einem einheitlichen Willensakt beruhen und wegen des engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs objektiv als ein einheitliches zusammengehörendes Geschehen erscheinen.
Die Summe der verschiedenen Handlungen verwirklicht die konstitutiven Elemente des Tatbestands, d.h. die Gefährdung der körperlichen oder seelischen Entwicklung des Kindes. Das Begehen von Einzelhandlungen oder das dauerhafte Verhalten geht implizit aus der gesetzlichen Definition des Delikts hervor, so dass rechtliche Handlungseinheit vorliegt.
5A_689/2022* (06.04.2023): Sachenrecht / definitive Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts
Das Bundesgericht gibt seine in BGE 136 III 6 in einem obiter dictum geäusserte Auslegung auf, wonach der revidierte Wortlaut von Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB deutlich mache, dass Arbeiten an einem Grundstück im Zusammenhang mit einem Bauvorhaben für einen Anspruch auf Errichtung eines Bauhandwerkerpfandrechts genügten, die körperliche Verbindung der Arbeit mit dem Grundstück oder wenigstens die Bestimmtheit der Arbeit zu einer solchen Verbindung nicht mehr erforderlich sei und der Zusatz «und dergleichen» bedeute, dass jede Lieferung von Material und Arbeit oder Arbeit allein auf einem Grundstück pfandberechtigt sein wird, wenn und soweit sie nur mit einem konkreten Bauvorhaben im Zusammenhang stehe. In Übereinstimmung mit der Lehre müssen pfandgeschützte Arbeiten drei Merkmale aufweisen: (1.) Es muss sich um typische Bau- oder Abbrucharbeiten handeln; (2.) es muss sich um physische, manuelle und/oder mechanische Arbeiten handeln, geistige oder immaterielle Arbeiten sind ausgeschlossen; (3.) die Arbeiten müssen zwar nicht dauerhaft in das Bauwerk als solches integriert oder mit ihm verbunden werden, aber sie müssen in dem Sinne bauwerkspezifisch sein, dass sie einen direkten und unmittelbaren funktionalen Zusammenhang mit der individuellen Herstellung des Bauwerks aufweisen und als solche nur schwer oder überhaupt nicht wiederverwendbar sind.
2C_734/2022* (03.05.2023): Migrationsrecht / Aufenthalts- bzw. Härtefallbewilligung gestützt auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK
Ein Ausländer vergass 2007 seine Aufenthaltsbewilligung zu erneuern, und lebt seither ohne gültigen Aufenthaltstitel in der Schweiz. Er ersuchte um eine Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK, die ihm aber verweigert wurde. Er erhebt deshalb Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Das Bundesgericht anerkennt seit langem, dass das Recht auf Privatleben i.S.v. Art. 8 Ziff. 1 EMRK einer ausländischen Person ausnahmsweise einen Anspruch auf Aufenthalt verleiht, wenn diese in der Schweiz beruflich oder sozial besonders gut integriert ist. In BGE 144 I 266 hat das Bundesgericht festgelegt, dass von einer solchen Integration in der Regel auszugehen ist, wenn sich jemand bereits seit mehr als zehn Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhält. In späteren Urteilen hat das Bundesgericht präzisiert, dass illegaler Aufenthalt bei der Berechnung der Zehnjahresfrist nicht berücksichtigt wird (Urteil 2C_821/2021 vom 01.11.2022) sowie, dass diese Frist erlischt, wenn jemand die Schweiz freiwillig für längere Zeit verlässt (Urteil 2C_528/2021 vom 23.06.2022, zur Publikation vorgesehen). Es ist jedoch festzuhalten, dass bei besonders erfolgreicher Integration im Einzelfall auch ohne Einhaltung des Zehnjahreskriteriums ein Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK bestehen kann. In diesem Sinn kann Art. 8 Ziff. 1 EMRK nicht nur einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung begründen, sondern u.U. auch auf eine erstmalige oder eine erneute Aufenthaltsbewilligung nach Verlust einer früheren. Vorliegend kann allerdings von einer besonders erfolgreichen Integration nicht die Rede sein (kein Bemühen um Eingliederung in den Arbeitsmarkt, hohe Schulden, strafrechtliche Verurteilung wegen Nicht-Bezahlens von Unterhaltsbeiträgen).
5A_816/2022* (29.03.2023): SchKG / definitive Rechtsöffnung
Ein vollstreckbares Urteil, das einen Arbeitgeber dazu verurteilt, einem Arbeitnehmer einen Bruttolohn abzüglich der von diesem zu tragenden Sozialabgaben zu zahlen, stellt einen Rechtsöffnungstitel i.S.v. Art. 80 Abs. 1 SchKG dar. Der Arbeitgeber kann jedoch als Einrede i.S.v. Art. 81 Abs. 1 SchKG seine Verpflichtung zur Abführung dieser Beiträge geltend machen. Es obliegt ihm dann, den Umfang seiner Verpflichtung urkundlich nachzuweisen. Andernfalls ist im Umfang des Bruttolohnes die Rechtsöffnung zu erteilen.
1C_115/2022* (27.04.2023): Naturschutz / Ausscheidung eines Naturerlebnisparks
In den Wäldern des Jorat nördlich von Lausanne soll ein Naturerlebnispark (Art. 23h NHG; Art. 22 ff. PäV) errichtet werden. Ein Naturerlebnispark ist ein Gebiet in der Nähe eines dicht besiedelten Raumes, das der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt unberührte Lebensräume bietet und der Allgemeinheit Naturerlebnisse ermöglicht (Art. 23h Abs. 1 NHG). Er besteht aus einer Kernzone, in der die Natur sich selbst überlassen wird und die für die Allgemeinheit nur beschränkt zugänglich ist (Art. 23h Abs. 3 lit. a NHG), und einer Übergangszone, in der Naturerlebnisse ermöglicht werden und die als Puffer gegen schädliche Einwirkungen auf die Kernzone dient (Art. 23h Abs. 3 lit. b NHG). Die Beschwerdeführenden kritisieren, dass der Kanton Waadt nur die Kern-, nicht aber die Übergangszone ausgeschieden hat. Sie übersehen dabei, dass Naturerlebnisparks durch Vereinbarung errichtet werden (vgl. Art. 26 PäV und Art. 4 Abs. 1 LVOParcs/VD). Eine verbindliche nutzungsplanerische Sicherung verlangt das Bundesgericht nur für die Kernzone. Zwar setzt die Existenz eines Parks auch eine Übergangszone voraus, doch muss diese nicht zwangsläufig durch eine Revision der geltenden Nutzungsplanung geschaffen werden, insbesondere wenn diese bereits die Anforderungen von Art. 24 PäV erfüllt.
2C_236/2022* (02.05.2023): Eintragung der Ausweisung in das Schengener Informationssystems (SIS)
In diesem Fall befasste sich das Bundesgericht mit der Beurteilung der Ausschreibung eines strafrechtlichen Landesverweises in das Schengener Informationssystem (SIS) des britischen Staatsbürgers A. und deren Auswirkungen nach dem Brexit. A. wurde wegen mehrerer Straftaten, darunter Körperverletzung, gewerbsmässiger Diebstahl und Sachbeschädigung, zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 2 Monaten verurteilt. Das Strafgericht ordnete zudem seine lebenslange Ausweisung aus der Schweiz an und die Eintragung dieser Ausweisung in das SIS. Dieses Urteil wurde vom Kantonsgericht grösstenteils bestätigt. A. legte beim Bundesgericht eine Beschwerde gegen das Urteil ein und beantragte, dass seine lebenslange Ausweisung aus der Schweiz nicht in das SIS eingetragen wird. Er argumentierte, dass er als britischer Staatsangehöriger nach dem Brexit nicht mehr dem Schengen-Raum angehörte und die begangenen Straftaten teilweise vor dem Brexit und insgesamt vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Schengen-Raum stattgefunden haben. Er behauptete, dass die Eintragung seiner Ausweisung im SIS gegen das Rückwirkungsverbot und den Grundsatz der Gleichheit verstosse. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Ausschreibung im SIS keine Strafe darstellt und sich daher von der Ausweisungsverfügung unterscheidet. In diesem Fall war das Vereinigte Königreich zum Zeitpunkt des Strafurteils, d.h. im Jahr 2022, kein Schengen-Staat mehr. Daher wurde der Beschwerdeführer zu Recht als «Drittstaatsangehöriger» gemäss Art. 3 Abs. 4 der Verordnung (EU) 2018/1861 betrachtet, unabhängig davon, ob die Straftaten vor dem Austritt des Landes aus dem Schengen-Raum am 1. Januar 2021 begangen wurden.
4A_412/2022* (11.05.2023): Arbeitsvertrag / missbräuchliche Kündigung / Einsprache
Der Arbeitnehmer trägt die Behauptungslast für die Einsprache gegen die Kündigung nach Art. 336b OR. Die Frist für die Vornahme der Einsprache durch den Arbeitnehmer stellt eine Verwirkungsfrist dar. Auch wenn die Verwirkung von Amtes wegen zu berücksichtigen ist, entbindet dies die Parteien im Geltungsbereich der Verhandlungsmaxime nicht davon, die erforderlichen Tatsachen und Beweismittel in den Prozess einzuführen. Die Rechtsprechung zur Behauptungs- und Beweislast im Zusammenhang mit Verwirkungsfristen ist uneinheitlich. Teilweise hat das Bundesgericht die Einhaltung der Frist als konstitutives Element für die Klageerhebung aufgefasst, teilweise aber auch festgehalten, die Nichtverwirkung eines Rechts sei eine implizit behauptete Tatsache, die der Kläger nur im Bestreitungsfall behaupten und beweisen müsse. Da Verwirkungsfristen viele verschiedene Situationen zum Gegenstand haben, ist von einer Verallgemeinerung abzusehen. Die Frist nach Art. 336b OR unterscheidet sich von einer echten Klagefrist insofern, als der Arbeitnehmer überhaupt nur einen Anspruch auf Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung hat, wenn er Einsprache erhoben hat und diese erfolglos geblieben ist. Mit der Behauptung und dem Beweis der rechtzeitigen Einsprache kann deshalb nicht zugewartet werden, bis die beklagte Partei die Verwirkung geltend macht.
5A_77/2022* (15.03.2023): Familienrecht / Scheidung / Kindesunterhalt
Die für ein Kind ausbezahlte Hilflosenentschädigung ist bei der Berechnung des Kindesunterhalts auch nach revidiertem Kindesunterhaltsrecht nicht zu berücksichtigen, insbesondere auch nicht für einen allfälligen Betreuungsunterhalt. Die Hilflosenentschädigung soll die durch eine Behinderung verursachten zusätzlichen Kosten für die Hilfe oder Überwachung bei alltäglichen Lebensverrichtungen pauschal entschädigen.
9C_198/2022* (30.05.2023): Invalidenversicherung / Invalidenrente / Berechnung
Streitpunkt bildet die Berechnung der dem Beschwerdeführer zugesprochenen Invalidenrente, insbesondere die Berücksichtigung der in Portugal zurückgelegten Beitragszeiten bei der Berechnung seiner Rente ab dem 1. September 2021. Der Rechtsstreit fällt unter die europäische Koordination der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente entstand in casu am 1. Januar 2018, nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004. Ratione temporis ist der vorliegende Fall somit im Lichte dieser Verordnung zu beurteilen. Die unter dem Regime der Verordnung Nr. 1408/71 entwickelte Rechtsprechung betreffend Anwendbarkeit der Bestimmungen günstigerer bilateraler Abkommen setzt sich auch unter dem Regime der Verordnung Nr. 883/2004 fort. Die Ersetzung der Art. 6 und Art. 7 der ersten Verordnung durch Art. 8 der zweiten Verordnung hat in der Tat keine wesentlichen Änderungen zur Folge. Demnach kann ein Versicherter, der sein Recht auf Freizügigkeit vor dem Inkrafttreten des FZA ausgeübt hat und dessen Anspruch auf eine Rente der schweizerischen Invalidenversicherung nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 883/2004 entstanden ist, von einer günstigeren Bestimmung eines bilateralen Abkommens über soziale Sicherheit auch unter dem Regime der Verordnung Nr. 883/2004 profitieren.
6B_1160/2022* (01.05.2023): StGB / StPO / Verweisungsbruch / Genugtuung wegen Überhaft / Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten
Der aus Algerien stammende Beschwerdeführer wurde wegen Verweisungsbruch zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt und erhielt wegen 27 Tagen Überhaft eine Genugtuung von Fr. 935.– zugesprochen, was Fr. 35.– pro Tag entspricht. Das Bundesgericht erachtet grundsätzlich eine Genugtuung von Fr. 200.– pro Tag als angemessen, sofern nicht aussergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine höhere oder geringere Entschädigung rechtfertigen.
Das Bundesgericht hat in einem ähnlichen Fall den wesentlich tieferen Lebenshaltungskosten in Algerien (BIP pro Einwohner rund 20 Mal kleiner als in der Schweiz) Rechnung getragen, indem es eine Genugtuung von Fr. 70.– pro Tag (Reduktion um 65% von Fr. 200.–) als angemessen erachtete (Urteil 6B_242/2019 vom 18. März 2019). Vorliegend hat sich die Vorinstanz auf diesen Referenzbetrag gestützt und ihn gemäss Art. 431 Abs. 3 lit. a StPO herabgesetzt. Zudem hat sie berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer zweimal rechtskräftig des Landes verwiesen wurde und keine Bindungen zur Schweiz hat. Sie hat damit ihr weites Ermessen nicht überschritten.
5A_961/2022* (11.05.2023): Beachtung des Testierwillens bei Liquidationsüberschuss
Der Entscheid äussert sich anschaulich zu den Grundsätzen der Ausschlagung, zu der konkursamtlichen Liquidation und dem obiter dictum in BGer 5D_63/2014 vom 5. September 2014.
Das Bundesgericht geht bei Vorhandensein eines Liquidationsüberschusses von einer irrtümlichen Ausschlagung aus und stellt bei der Verteilung den erblasserischen Willen in den Vordergrund. Sofern eine letztwillige Verfügung vorliegt, steht der Liquidationsüberschuss deshalb den eingesetzten Erben zu.
11.09.2023 – 17.09.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
9C_710/2022* (17.08.2023): Staats- und Gemeindesteuern des Kantons St. Gallen sowie direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2018
Im vorliegenden Fall war unklar, ob die Beschwerdeführer im Kanton St. Gallen oder im Kanton Schwyz steuerpflichtig sind. Die Beschwerdeführer wurden in beiden Kantonen veranlagt, weil sie zwar im Kanton St. Gallen wohnten, aber einen Wohnsitz in Schwyz zwecks Einschulung der Tochter begründeten. Nachfolgend ging es um die Frage, ob das Beschwerderecht gegen den Kanton Schwyz verwirkt sei (E. 2.). Nach der bisherigen Rechtsprechung verwirkte der Steuerpflichtige das Beschwerderecht bzw. das Recht zur Anfechtung der (rechtskräftigen) kantonalen Veranlagung, wenn er seine Steuerpflicht in einem Kanton in Kenntnis des kollidierenden Steueranspruchs des anderen Kantons vorbehaltslos anerkennt (E. 2.1.). Diese Praxis revidiert das Bundesgericht nun. Die Verwirkung des Beschwerderechts sei nicht länger eine verhältnismässige Massnahme, um treuwidrigem Verhalten einer steuerpflichtigen Person im interkantonalen Verhältnis zu begegnen (E. 2.5., Einschränkungen in E. 4.4.). Wenn das Verhalten der Veranlagten aber gegen Treu und Glauben verstösst, können ihnen entsprechend Verfahrenskosten auferlegt werden (E. 5.2. f.).
9C_87/2023* (24.08.2023): Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2012 bis 2016
Ausgenommen von der Mehrwertsteuer sind gemäss Art. 21 Abs. 2 Ziff. 3 MWSTG (soweit hier interessierend) die Behandlungen von Ärzten, Naturärzten oder Angehörigen ähnlicher Heil- und Pflegeberufe erbrachten Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, soweit die Leistungserbringer und Leistungserbringerinnen über eine Berufsausübungsbewilligung verfügen (E. 3.2.). Das Bundesgericht durfte sich dazu äussern, wann von einer solchen Bewilligung auszugehen ist. Konkret thematisiert wurden dabei Naturärzte, Heilpraktiker und Naturheilpraktiker (E. 4.1.). Die Modalitäten einer Bewilligung regelt das kantonale Recht (E. 4.2.). Das Bundesgericht folge den Erwägungen der Vorinstanz, wobei unter Zulassung zur Ausübung der Heilbehandlung nach der kantonalen Gesetzgebung (im Sinne von Art. 35 Abs. 1 Bst. a und b MWSTV) nur eine positive Genehmigung verstanden werden kann, nicht aber ein blosses Dulden. Auch ein bewusster Verzicht des kantonalen Gesetzgebers auf eine entsprechende Regelung genüge rechtsprechungsgemäss nicht für die Anwendbarkeit der Steuerausnahmevorschrift. In der Rechtsprechung werde in diesem Zusammenhang zudem ausgeführt, dass ein Dokument, welches bestätige, dass ein Beruf ohne Bewilligung ausgeübt werden könne, nicht als positive Genehmigung im massgebenden Sinne zu qualifizieren sei. Hingegen genüge eine Grundlage im kantonalen Recht, wonach die Ausübung der Heilbehandlung ausdrücklich zugelassen sei (E. 4.3., 4.5.).
5A_133/2023* (19.07.2023): Erbrechtliche Ungültigkeitsklage
Eine Erblasserin hinterliess ein von Hand geschriebenes Testament. Eine Unterschrift im Anschluss an den Text fehlte. Strittig war, ob das Dokument als formgültige eigenhändige letztwillige Verfügung im Sinn von Art. 505 Abs. 1 ZGB zu qualifizieren sei. Dabei stellen sich im Wesentlichen zwei Fragen: Genügt die einleitende Selbstbenennung der Erblasserin dem Unterschriftserfordernis oder ist dieses durch die Aufschrift auf dem Umschlag erfüllt (E. 3.)?
Die Erblasserin begann das Schreiben damit, ihren eigenen Namen zu nennen. Dies liess das Bundesgericht aber nicht als formerfüllende Unterschrift gelten (E. 4). Das potenzielle Testament legte die Erblasserin in einen Brief, den sie von Hand mit ihrem Namen beschriftete. Das Bundesgericht kam in dieser Konstellation zum Schluss, dass eine Unterschrift auf einem anderen Blatt grundsätzlich der Formvorschrift genügen kann, wenn das Blatt mit der Unterschrift eine Einheit mit dem Testament darstellt (E. 5.2.). Vorliegend ging das Bundesgericht aber von einem ungenügenden Zusammenhang zwischen dem Umschlag und dem sich darin befindenden Testament aus (E. 5.3.). Weiter handle es sich bei der Beschriftung selbst nicht um eine Unterschrift im Sinne von 505 Abs. 1 ZGB (E. 5.3.).
5A_668/2021* (19.07.2023): Kindesunterhalt, Überschussanteil des Kindes bei unverheirateten Eltern
In der Sache geht es ausschliesslich um die Rechtsfrage, wie im Zusammenhang mit der Überschussverteilung bei nicht verheirateten Eltern die « grossen und kleinen Köpfe » zu zählen sind. Ausgangspunkt bildet die im Leitentscheid BGE 147 III 265 in Abkehr vom Methodenpluralismus für den Kindesunterhalt verbindlich vorgegebene zweistufig-konkrete Methode mit Überschussverteilung (BGE 147 III 265 E. 6.6) und innerhalb dieser Methode die Vorgabe, dass rechnerisch resultierende Überschüsse im Grundsatz nach « grossen und kleinen Köpfen » zu verteilen sind, davon aber im begründeten Einzelfall ermessensweise abgewichen werden kann und muss (BGE 147 III 265 E. 7.3), wobei die Ermessensausübung sich auf die Überschussverteilung beschränkt bzw. bei dieser gebündelt wird (BGE 147 III 265 E. 7.1) (E. 2.1.).
Der beschwerdeführende Vater brachte vor, dass die Mutter auch als «grosser Kopf» hätte gezählt werden müssen, weshalb dem Sohn nur 20% des Überschusses zustehe. Das Bundesgericht kommt aber zum Schluss, dass es im Rahmen einer konkreten Berechnungsmethode nicht tunlich sei, bei der Überschussverteilung virtuell einen « grossen Kopf » für einen Elternteil einzusetzen, welcher keinen eigenen Unterhaltsanspruch hat und nicht berechtigt ist, am Überschuss des anderen Elternteils reell zu partizipieren (E. 2.7.).
04.09.2023 – 10.09.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Can Kirmizikaya
8C_125/2023 (08.08.2023): Unfallversicherung (Unfallbegriff; Kausalzusammenhang)
Das vorliegende Bundesgerichtsurteil betrifft eine Beschwerde gegen einen Einspracheentscheid der Helsana Unfall AG in einem Unfallversicherungsfall. Die Beschwerdeführerin wurde am 22. November 2021 bei der Arbeit in einem Supermarkt durch einen Stein in einem Salatbeutel verletzt, als sie darauf biss. Dabei brach eine Zahnfüllung teilweise ab und es bestand der Verdacht auf eine Längsfraktur des Zahnes. Die Helsana Unfall AG lehnte ihre Leistungspflicht ab, da kein natürlicher Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Zahnschaden bestehe. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau bestätigte diesen Entscheid. Die Beschwerdeführerin gelangte daraufhin ans Bundesgericht mit dem Begehren, ihr seien die Leistungen zu gewähren. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass der Sachverhalt nicht genügend abgeklärt worden sei, was den Untersuchungsgrundsatz in Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG und zugleich die Regeln betreffend den Beweiswert von ärztlichen Berichten verletze (E. 5.7.). Das Bundesgericht hob den Entscheid des Versicherungsgerichts und den Einspracheentscheid auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Helsana Unfall AG zurück.
28.08.2023 – 01.09.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Cathrin Christian
2C_142/2023 (03.08.2023): Bürgerrecht und Ausländerrecht, Haftüberprüfung im Rahmen des Dublin-Verfahrens
Das Bundesgerichtsurteil behandelt die Inhaftierung einer türkischen Staatsangehörigen (Klägerin) in der Schweiz im Rahmen des Dublin-Verfahrens.
Am Morgen des 11. Juli 2022 führte die Kantonspolizei die Klägerin einem Arzt zu, und inhaftierte sie in der Folge im Kantonalgefängnis. Auf dem Vollzugsausweis des Kantonalgefängnisses war als Haftform «Dublin-Haft Art. 76a AIG» und als einweisende Behörde das Migrationsamt Thurgau angegeben.
Das Bundesgericht musste die Frage beantworten, ob die Inhaftierung rechtens war und ob die Haftbedingungen den Anforderungen der Dublin-III-Verordnung entsprochen haben.
Art. 28 Dublin-III-Verordnung stellt für die Inhaftierung von ausländischen Personen zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren haftrechtliche Minimalgarantien auf. Art. 28 Dublin-III-Verordnung kommt nur zur Anwendung, wenn eine Person in Haft genommen wird. Der EuGH verweist für den Haftbegriff der Dublin-Verordnung auf die Definition in Art. 2 lit. h der Richtlinie 2013/33: Haft ist demnach die räumliche Beschränkung einer Person auf einen bestimmten Ort; sie zwingt die betroffene Person, sich dauerhaft in einem eingeschränkten, geschlossenen Bereich aufzuhalten, wo sie von der übrigen Bevölkerung isoliert und ihr die Bewegungsfreiheit entzogen ist. Im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung ist für die Auslegung des Haftbegriffs im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung auf den Begriff des Freiheitsentzugs und die entsprechende Auslegung von Art. 31 BV sowie Art. 5 EMRK zurückzugreifen (E. 3.3.6). Für den Polizeigewahrsam gestützt auf kantonales Recht in Verbindung mit dem Zwangsanwendungsgesetz bleibt kein Raum, wenn dieser die Schwelle eines Freiheitsentzugs erreicht und die Inhaftnahme einzig zum Zweck erfolgt, eine Rückführung im Dublin-Verfahren sicher zu stellen. Diese Rechtslage bedeutet (selbstredend) nicht, dass es ausgeschlossen ist, Personen im Dublin-Verfahren gestützt auf andere, ausserhalb des Vollzugs der Rücküberstellung liegende, gesetzliche Gründe zu inhaftieren, wenn die dafür geltenden spezifischen Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung respektive Gefahrenabwehr erfüllt sind. In solchen Fällen kommt Art. 28 Dublin-III-Verordnung nicht zur Anwendung; dieser begrenzt die Haftbefugnisse der nationalen Behörden dort, wo es um die Sicherung der Überstellung einer Person in den Dublin-Empfängerstaat geht (E.3.3.7).
Das Bundesgericht entschied, dass die Inhaftierung aufgrund der spezifischen Umstände des Falls rechtswidrig war und dass die Haftbedingungen nicht den Anforderungen entsprochen haben. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wurde angewiesen, den Fall erneut zu prüfen.
4A_575/2022 (07.08.2023): Schiedsgerichtsbarkeit, Internationale Schiedsgerichtsbarkeit
Das Bundesgericht setzte sich mit einem Antrag auf Aufhebung des «Teilschiedsspruch» vom November 2022 des Einzelschiedsrichter – ernannt durch den ICC-Gerichtshof – auseinander. Vorgängig ernannte der ICC-Gerichtshof einen Einzelschiedsrichter, der einerseits für zwei Unternehmen als Klägerinnen und andererseits für die Republik Südsudan als Beklagte zuständig ist.
Das Bundesgericht lehnte den Antrag auf Aufhebung des Teilschiedsspruchs ab.
Kurz gefasst hatte die Republik Sudan im Jahr 2003 mit den Klägerinnen einen Lizenzvertrag für den Betrieb eines Telekommunikationsnetzes im Süden ihres Landes geschlossen. Laut Lizenzvereinbarung sollten die Klägerinnen ein Telekommunikationsnetz in einem Teil des Gebiets der südlichen Republik Sudan aufbauen und betreiben. Die Republik Südsudan erlangte 2011 seine Unabhängigkeit von der Republik Sudan. Im Jahr 2018 leiteten die Klägerinnen ein Schiedsverfahren nach den Regeln der internationalen Handelskammer gegen die Beklagte ein. Sie machten geltend, dass Verstösse gegen die Lizenzvereinbarung zu Verzögerungen geführt und den Betrieb und die Entwicklung des Telekommunikationsnetzte beeinträchtigt hätten, dass sie gezwungen gewesen seien, den Betrieb des Telekommunikationsnetzes einzustellen und dass die Lizenzvereinbarung rechtswidrig gekündigt worden sei. In diesem Schiedsverfahren bestritt die Beklagte unter anderem, an die in der Lizenzvereinbarung enthaltene Schiedsvereinbarung gebunden zu sein, und dass die Lizenzvereinbarung rechtswidrig gekündigt worden sei.
Im vorliegenden Entscheid bestätigt das Bundesgericht die herrschende Lehre zu Art. 177 Abs. 2 IPRG, wonach es einem Staat untersagt ist, unter Berufung auf sein eigenes Recht seine Parteifähigkeit im Schiedsverfahren oder die Schiedsfähigkeit einer Streitsache in Frage zu stellen. Das schliesst auch aus, dass sich ein Staat gestützt auf innerstaatliches Recht auf die mangelnde Befugnis der Person respektive Institution beruft, welche für den betreffenden Staat die Schiedsvereinbarung unterzeichnet hat, zumindest wenn die nichtstaatliche Gegenpartei die fehlende Befugnis der für den Staat unterzeichnenden Person bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätte erkennen können (E. 4.3.4).
Der Einzelschiedsrichter stellte auf einen Vertrag zwischen der Republik Sudan und der Beschwerdeführerin ab, der die Verteilung von Vermögen und Verbindlichkeiten zwischen diesen beiden Staaten regelte, wie auch auf eine ministerielle Verfügung der Beschwerdeführerin. Aus alledem ergibt sich laut dem Einzelschiedsrichter «klar und unzweifelhaft», dass die Beschwerdeführerin als Staatennachfolgerin in die streitgegenständlichen Lizenzverträge samt Schiedsklausel eingetreten ist und sich im Übrigen selbst als solche betrachtet hat (E. 4.4.5).
4A_559/2022 (03.08.2023): Vertragsrecht, Einsichtsrecht nach Art. 958e Abs. 2 OR
Das Bundesgericht befasste sich im vorliegenden Fall mit der Frage nach der Tragweite einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 IPRG und nach welchem Beweismass die Gläubigerstellung gem. Art. 958e Abs. 2 OR zu prüfen ist. Vorliegend geht es um einen
Rechtsstreit betreffend Deckungsansprüche aus einem Rückversicherungsvertrag zwischen der Beschwerdegegnerin, eine Versicherungs- und Rückversicherungsgesellschaft mit Sitz in Peru und der Beschwerdeführerin, eine im Bereich der Rück- und Direktversicherungen tätige Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz.
Nach welchem Recht die sachliche Tragweite einer Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 5 IPRG zu bestimmen ist, wurde bislang nicht abschliessend geklärt. Die Anwendung der lex causae (anstatt der lex fori) rechtfertigt sich insofern, als die sachliche Reichweite der Gerichtsstandsklausel den Inhalt der Vereinbarung betrifft, der sich nach dem Parteiwillen bestimmt. Die sachliche Reichweite richtet sich mit anderen Worten nach dem Umfang des Parteikonsenses und betrifft im Ergebnis auch die Frage, ob für den entsprechenden Rechtsstreit eine Gerichtsstandsvereinbarung zustande gekommen ist. Das Zustandekommen der Vereinbarung und deren sachliche Tragweite bildet (im Unterschied zu deren Zulässigkeit) eine Frage des materiellen Rechts, die sich nach der lex causae richtet, und nicht eine Frage des Prozessrechts, die sich nach der lex fori richtet (E.5.1.2).
Der Gesuchsteller, der gegenüber einer Gesellschaft gemäss Art. 958e Abs. 2 OR Einsicht verlangt, muss grundsätzlich sowohl seine Gläubigerstellung als auch ein schutzwürdiges Interesse nachweisen (E. 6.2.3). Nach welchem Beweismass die Gläubigerstellung zu prüfen ist, äussert sich das Bundesgericht in Erwägung 6.3.2: «Die Voraussetzung eines strikten Beweises der Gläubigerstellung würde daher oft dazu führen, dass die Rechtsdurchsetzung an Beweisschwierigkeiten scheitern könnte. Der Gläubiger wäre gezwungen, entweder zunächst den Forderungsprozess gegen die Gesellschaft abzuschliessen, um ein Urteil über seine Gläubigerstellung zu erlangen, oder aber im summarischen Einsichtsverfahren ein vollwertiges Beweisverfahren über seine Gläubigereigenschaften zu führen. Dies erscheint unzumutbar und würde dazu führen, dass Gläubiger, welche die Solvenz einer Gesellschaft prüfen wollen, bevor sie zusätzlichen finanziellen Aufwand in den Forderungsprozess investieren, vom Einsichtsrecht keinen Gebrauch mehr machen könnten. Da eine Beweismassreduktion auch gerechtfertigt ist, wenn die geltend gemachte Anspruchsnorm andernfalls nicht durchgängig umzusetzen wäre, rechtfertigt sich die Anwendung des Beweismasses der überwiegenden Wahrscheinlichkeit beim Nachweis der Gläubigerstellung».
21.08.2023 – 27.08.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
2C_402/2022 (31.07.2023): Beschluss des Grossen Rats des Kantons Thurgau vom 12. Januar 2022 betreffend die Änderung des Gesetzes über die Volksschule des Kantons Thurgau
Der Grosse Rat des Kantons Thurgau führte im Jahr 2022 im kantonalen Volksschulgesetz eine vorschulische Sprachförderung ein. Sie gilt für Kinder, die bis Ende Juli des jeweiligen Jahres drei Jahre alt werden und die einen sprachlichen Förderbedarf aufweisen. Die Gesetzesvorlage sieht vor, dass von den Erziehungsberechtigten der betroffenen Kinder ein einkommensabhängiger Beitrag von maximal 800 Franken pro Jahr gefordert werden kann. Ausserdem sind die Erziehungsberechtigten für den Weg um Förderangebot verantwortlich.
Das Bundesgericht heisst eine gegen die kantonale Gesetzesvorlage erhobene Beschwerde gut und hebt die Regelungen zur Kostenbeteiligung sowie zum Schulweg auf. Die Sprachförderung ist mit einer obligatorischen Abklärung der sprachlichen Fähigkeiten aller Kinder einer Altersgruppe verbunden. Potenziell sind damit alle im Kanton Thurgau wohnhaften Kinder von der Pflicht zum Besuch der vorschulischen Sprachförderung betroffen (E. 3.4.2.). Daran ändert nichts, dass letztlich nur Kinder zum Besuch der Sprachförderung verpflichtet werden, bei denen ein sprachlicher Förderbedarf besteht (E. 3.4.3.). Da mit der Gesetzesvorlage die (allgemeine) Schulpflicht auf die Kinder der betroffenen Altersgruppe ausgeweitet wird, sind die Regelungen zur Kostenbeteiligung sowie zum Schulweg nicht mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht vereinbar (E. 3.5.1.).
14.08.2023 – 18.08.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Can Kirmizikaya
6B_1298/2022 (10.07.2023): Amtsmissbrauch; Verwertbarkeit von Beweisen
Das Urteil des Bundesgerichtes behandelt einen Fall von Amtsmissbrauch und die Verwertbarkeit von Beweisen. Der Beschwerdeführer, ein Vollzugsbeamter, wurde beschuldigt, einem Gefangenen nach dessen Festhaltung unverhältnismässig Gewalt angetan zu haben. Das Gericht befasste sich zunächst mit der Frage, ob die Videoaufzeichnungen der Justizvollzugsanstalt (JVA) als Beweismittel verwendet werden dürfen. Der Beschwerdeführer machte geltend, die Staatsanwaltschaft habe die Videoaufzeichnungen nicht rechtmässig erlangt. Das Bundesgericht gelangte jedoch zum Ergebnis, dass die Staatsanwaltschaft die Videoaufzeichnungen aufgrund der drohenden Beweismittelvernichtung rechtmässig beschafft hatte. Das Gericht qualifiziert den Amtsmissbrauch des Beschwerdeführers zudem als schwere Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO (E. 1.2.). Das öffentliche Interesse an der Aufklärung des Falles überwiege daher dem Interesse des Beschwerdeführers an der Unverwertbarkeit der Videoaufzeichnungen (E. 1.5.). Der Beschwerdeführer rügte auch die Ablehnung seiner Beweisanträge auf Einvernahme von Zeugen und Befragung von Sachverständigen. Das Bundesgericht wies diese Beanstandungen zurück und bestätigt die Entscheide der Vorinstanzen (E. 2.4. f.). Im Ergebnis wies das Bundesgericht die Beschwerde ab.
6B_1186/2022 (12.07.2023): Strafzumessung (mehrfache vorsätzliche Hinterziehung der Mehrwertsteuer)
In einem neuen Grundsatzentscheid äusserte sich das Bundesgericht zur Strafzumessung bei MWST-Hinterziehung. Gemäss Bundesgericht lag es dem Gesetzgeber bei der Berechnung von Mehrwertsteuerbussen am Herzen, unter den Bedingungen des neuen Rechts vermehrt die finanzielle Situation der beschuldigten Person zu berücksichtigen. Dabei hatte der Gesetzgeber insbesondere die Absicht, sicherzustellen, dass Mehrwertsteuerbussen, die die wirtschaftliche Existenzgrundlage gefährden könnten, nicht verhängt werden, ohne die Vermögens- und Einkommensverhältnisse, den Grundbedarf sowie mögliche familiäre und unterstützungsrechtliche Verpflichtungen zu prüfen. Die Angemessenheit der Mehrwertsteuerbusse sollte in dieser Hinsicht gewährleistet sein. Diese Absicht drückte der Gesetzgeber durch den Verweis in Art. 97 Abs. 1 des MWSTG auf Art 34 Abs. 2 StGB aus. Im Gegensatz dazu bestand das gesetzgeberische Ziel nicht darin, dass die Bussen im Rahmen des neuen Rechts automatisch geringer ausfallen sollten und dass finanziell gut gestellte Straftäter zukünftig milde bestraft werden sollten (E. 10.3.2).
31.07.2023 – 06.08.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
6B_337/2022 (12.07.2023): Strafzumessung, Verbindungsbusse
Das Bundesgericht urteilte, dass die Verbindungsbusse i.S.v. Art. 42 Abs. 4 StGB höchstens einen Fünftel bzw. 20 % der in der Summe schuldangemessenen Sanktion – bestehend aus einer bedingt ausgesprochenen Hauptstrafe kombiniert mit einer Verbindungsbusse – betragen darf (E. 1.3.2.).
24.07.2023 – 30.07.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Can Kirmizikaya
6B_911/2021 (19.06.2023): Einziehung von geringfügigen, zum Eigenkonsum bestimmten Mengen Cannabis (Art. 19b BetmG), DNA-Probenahme; Genugtuung, Kosten, Prozessentschädigung
Das Bundesgericht entschied, dass geringe Mengen Cannabis (bis zu 10 Gramm gemäss Art. 19b Abs. 2 BetmG) gerichtlich nicht zur Vernichtung eingezogen werden dürfen. Hierfür fehle es an den Voraussetzungen einer Anlasstat gemäss Art. 69 Abs. 1 StGB. Der Erwerb und Besitz geringer Mengen Cannabis zum Eigenkonsum ist legal. Dass zuvor mit Wahrscheinlichkeit strafbare Handlungen durch Dritte begangen wurden, reicht für die Annahme einer Anlasstat nicht aus (E. 2.6.1).
1C_344/2022 (02.06.2023): Forderung Opferhilfegesetz (OHG)
In diesem Leitentscheid behandelte das Bundesgericht das Verhältnis zwischen unentgeltlicher Prozessführung und Opferhilfe im Strafprozessrecht. Das Gericht kommt zum Ergebnis, dass der Anspruch auf staatliche Übernahme der Anwaltskosten nicht von der unentgeltlichen Prozessführung abhängt und die Opferhilfe nicht subsidiär zur unentgeltlichen Prozessführung ist. Ein Opfer, das Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat, diesen aber im Strafverfahren nicht geltend macht, kann somit auch nachträglich noch bei der Opferhilfestelle den Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten stellen (E. 12.6). Das Bundesgericht hebt den Entscheid des Verwaltungsgerichts auf und verpflichtet den Kanton Thurgau, die Beschwerdeführerin zu entschädigen.
9C_682/2022 (23.06.2023): Direkte Bundessteuer, Steuerperiode 2017
Einem Fussballspieler, der seinen Arbeitsvertrag mit einem Fussballclub mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) einvernehmlich auflöste, wurde in der Aufhebungsvereinbarung eine Entschädigung von EUR 2.3 Mio. durch den Verein zugesprochen. Der Fussballspieler erhob beim Kantonsgericht Baselland Beschwerde gegen die Steuerverwaltung des Kantons Baselland, nachdem diese einen Grossteil der nicht ausbezahlten Entschädigungssumme zum steuerbaren Einkommen 2017 des Fussballspielers hinzugerechnet hatte. Die Beschwerde wurde gutgeheissen. Im weiteren Verlauf des Verfahrens hatte sich das Bundesgericht zu Fragen des internationalen Doppelbesteuerungsabkommens zwischen der Schweiz und den VAE (DBA-AE) zu äussern.
Das Bundesgericht hielt fest, dass die strittigen Zahlungen an den Fussballer entgegen der üblichen «Sollmethode» erst im Zeitpunkt der Auszahlung eine steuerbare Leistung darstellen würden. Dies ergebe sich daraus, dass der Verein aus den VAE in einem früheren Verfahren seine Zahlungsunwilligkeit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe (E. 4.4).
Im weiteren Verlauf des Urteils führt das Bundesgericht aus, dass das Besteuerungsrecht sowohl nach schweizerischem Recht als auch nach Völkerrecht der Schweiz zustehe. Gemäss Art. 15 Abs. 1 DBA-AE stehe den VAE kein Besteuerungsrecht zu, da die Entschädigungszahlung keine Gegenleistung für unselbständige Arbeit darstelle, sondern einer Schadenersatzzahlung gleichkomme (E. 10.4 f.).
17.07.2023 – 23.07.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Cathrin Christian
5A_391/2021 (8.06.2023): Personenrecht, Eintragung/Nachbeurkundung im Personenstandsregister (ausländische Angaben über Geschlecht und Vorname)
Eine Person schweizerischer Nationalität erlangte in Deutschland, gestützt auf deutsches Recht, die Streichung der Geschlechtsangabe. Anschliessend ersuchte die Person in der Schweiz um Anerkennung der in Deutschland vorgenommenen Streichung – ohne Erfolg. Nach dem Willen des Gesetzgebers gilt die binäre rechtliche Geschlechtsordnung (Mann/Frau) und der Verzicht auf einen Geschlechtseintrag ist somit unzulässig. Das Bundesgericht kann aus Gründen der Gewaltenteilung nicht von diesem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers abweichen und ist aufgrund von Art. 190 BV zur Anwendung von Bundesgesetzen verpflichtet. Es wäre Sache des Gesetzgebers, die rechtliche Regelung zu ändern. Ob die Anerkennung eines Verzichts auf die Geschlechtsangabe mit dem schweizerischen Ordre Public vereinbar wäre, kann unter diesen Voraussetzungen offen bleiben. Der EGMR verneint eine Verletzung staatlicher Handlungspflichten zur Gewährleistung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens bei Verzicht auf die Geschlechtsangabe.
4A_145/2023 (03.07.2023): Vertragsrecht Vorkaufsrecht
Das Bundesgericht musste sich im vorliegenden Urteil mit einem Vorkaufsrecht aus dem Jahr 1985 auseinandersetzten. Die Eigentümerin des Grundstücks xxx verkaufte ihr Grundstück und behielt den davon abparzellierten Teil yyy für sich. Die Verkäuferin (Eigentümerin von yyy) und Käuferin (Eigentümerin von xxx) vereinbarten gleichzeitig ein gegenseitiges Vorkaufsrecht für 30 Jahre.
Die Verkäuferin vererbte ihr Grundstück yyy an ihre beiden Töchter (Beschwerdeführerinnen bzw. die Beschwerdeführerin, weil eine der beiden zwischenzeitlich verstarb).
Auch die Käuferin trat ihr Grundstück xxx mit einem «Abtretungsvertrag auf Rechnung künftiger Erbschaft» an ihre beiden Söhne (die Beschwerdegegner) ab.
Als die Erbinnen der Verkäuferin ihr Grundstück an eine GmbH veräusserten, übten die beiden Söhne der Käuferin das Vorkaufsrecht aus und reichten Klage wegen Verletzung des Vorkaufsrechts ein.
Fraglich war, ob das 1985 begründete Vorkaufsrecht am Grundstück yyy der Käuferin an ihre beiden Söhne abgetreten werden konnte, obwohl die Parteien die Abtretbarkeit des Vorkaufsrechts nicht ausdrücklich vereinbart hatten.
Die Abtretbarkeit von vertraglichen Vorkaufsrechten an Grundstücken ist in Art. 216b OR geregelt, wobei nach Abs. 1 Vorkaufsrechte nicht abtretbar sind, sofern nichts anderes vereinbart ist. Da diese Bestimmung erst seit 1. Januar 1994 in Kraft ist, muss die Frage der Abtretbarkeit nach der davor geltenden Rechtslage beantwortet werden (E. 5.1.).
Das Obergericht erwog, das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Gesetzesrecht (konkret: aArt. 681 ZGB) habe sich einzig mit den im Grundbuch vorgemerkten Vorkaufsrechten befasst. Die Abtretbarkeit von vertraglichen Vorkaufsrechten sei gesetzlich nicht geregelt gewesen.
In sorgfältiger Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung und Lehre zur damaligen Rechtslage kam die Vorinstanz zum Ergebnis, dass das (altrechtlich begründete) Vorkaufsrecht im Allgemeinen vermutungsweise nicht abtretbar sei, sich die Abtretbarkeit indes « aus dem Willen der Parteien oder aus den besonderen Umständen des Einzelfalls » ergeben könne.
In casu lägen solche besonderen Umstände vor. Denn es sei klar, dass das Vorkaufsrecht nicht nur für die unmittelbar am Vertrag Beteiligten gegolten habe: Die Verkäuferin sei beim Vertragsabschluss 81 Jahre alt gewesen, sodass von Anfang an evident gewesen sei, dass auf ihrer Seite während der Dauer des Vorkaufsrechts der Erbfall eintreten werde. Beim Abschluss des Vertrags von 1985 habe niemand an die Eventualität gedacht, dass eines der Grundstücke dereinst statt im Todesfall vererbt, zu Lebzeiten auf Anrechnung künftiger Erbschaft an die mutmasslichen Erben übertragen werden könnte, wie dies dann mit « Abtretungsvertrag auf Rechnung künftiger Erbschaft » vom 6. Dezember 2011 zwischen der Käuferin und ihren Söhnen (den Beschwerdegegnern) tatsächlich geschehen sei. Hätten die damaligen Vertragsparteien (Verkäuferin und Käuferin) die Möglichkeit der lebzeitigen Übertragung der Grundstücke auf Anrechnung künftiger Erbschaft an die Nachkommen in ihre Überlegungen miteinbezogen, hätten sie die Abtretbarkeit des Vorkaufsrechts vereinbart. Ein solcher « subjektiver » Wille lasse sich gestützt auf die Akten erstellen. Es handle sich der Sache nach weniger um eine « Abtretung im eigentlichen Sinne » als vielmehr um eine vorgezogene Erbschaft. Vertragliche Vorkaufsrechte seien nach damaliger Rechtslage aber ohne Weiteres vererblich gewesen. Aufgrund dieser besonderen Umstände des Einzelfalls sei von der Abtretbarkeit des Vorkaufsrechts auszugehen (E. 5.2.).
Ein weiterer strittiger Punkt war der Verkehrswert des Grundstücks. Das Regionalgericht erwog, der Schaden der Beschwerdegegner bestehe in der Differenz zwischen ihrem « Vermögen aufgrund des vereitelten Vorkaufsrechts » und dem Stand ihres Vermögens, « den es bei wirksamer Ausübung des Vorkaufsrechts und Eintritt in den mit Dritten geschlossenen Vertrag gehabt hätte » (E. 6.1.). Zur Bestimmung des damaligen Verkehrswerts des Grundstücks Gbbl. Nr. yyy holte das Regionalgericht das Gutachten Y. ein. Es setzte sich einlässlich mit dem Gutachten sowie dessen Ergänzungen auseinander und erachtete es als « vollständig, nachvollziehbar und schlüssig » (E. 6.2.). Die Beschwerdeführerin beharrt vor Bundesgericht auf ihrem Standpunkt, wonach das Gutachten auf « falschen Tatsachen » beruhe und daher nicht für die Schadensbemessung hätte herangezogen werden dürfen. Sie zählt in diesem Zusammenhang angebliche « Mängel » des Gutachtens auf. Diese brachte sie bereits im kantonalen Verfahren vor. Beide Instanzen haben sich damit gründlich auseinandergesetzt, zu jeder behaupteten Unrichtigkeit Stellung genommen und die Einwände allesamt verworfen (E. 6.3.). Die nach einer zulässigen und nachvollziehbaren Bewertungsmethode erfolgte Festsetzung des Werts einer Liegenschaft betrifft eine vom kantonalen Gericht grundsätzlich abschliessend zu beurteilende Tatfrage, die das Bundesgericht nur unter dem beschränkten Gesichtspunkt der Willkür prüft. Die Verkehrswertschätzung eines Grundstücks ist naturgemäss eine Ermessensfrage. Ihr Resultat kann nicht nach objektiven Kriterien als richtig oder falsch bewertet. Dabei soll das Gericht nicht sein Wissen über das Fachwissen des Experten stellen und sich als Schiedsrichter in einem Meinungsstreit zwischen Fachleuten aufspielen, sondern darf in Fachfragen auf die begründete Auffassung des von ihm ernannten Experten abstellen. Es darf sich im Allgemeinen auf die Prüfung formeller Fragen, etwa das Vorhandensein von Ausstandsgründen beim Experten oder von offensichtlichen Widersprüchen in der Expertise, beschränken und davon ausgehen, dass es ansonsten Aufgabe der Parteien ist, im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht durch die Einreichung von Privatgutachten das Fundament der gerichtlichen Expertise in Frage zu stellen (E. 6.4.1.).
Nach dem Gesagten hält es der bundesgerichtlichen Überprüfung stand, wenn die Vorinstanzen bei der Bemessung des Schadenersatzes dem Gutachten Y. Rechnung getragen haben (E. 6.5.).
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab.
9C_698/2022 (21.06.2023): Öffentliche Finanzen & Abgaberecht, Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2013 bis 2017
Die steuerpflichtige GmbH kaufte von Waldeigentümern (Urproduzenten) Holz « ab Stock » ein, um dieses an Sägereien im In- und Ausland zu verkaufen. Mit den Holzschlagarbeiten beauftragte die Steuerpflichtige Subunternehmer, die sie auf eigene Rechnung entschädigte und damit die sog. Produktionskosten trug. Von dem den Urproduzenten zu entrichtenden Holzpreis zog sie zum einen die Produktionskosten, zum andern eine Marge (« Koordinationsabzug ») ab.
Betreffend dem « Koordinationsabzug » hielt die Vorinstanz zu Gunsten der Steuerpflichtigen und mangels Beschwerde der ESTV fest, dass dieser Abzug zu einer Entgeltsminderung führe und von der Steuerpflichtigen nicht zu versteuern sei (E. 3.2.1.).
Das Bundesgericht prüfte im vorliegenden Entscheid, ob die mehrwertsteuerliche Würdigung der von der Steuerpflichtigen auf die Urproduzenten überbundenen effektiven Produktionskosten – entweder als Leistungsverrechnung (bei zwei Leistungen) oder als Entgeltsminderung (bei lediglich einer Leistung) zu werten sei (E. 3.3.3). Die Steuerpflichtige hat die von ihr getragenen Produktionskosten, die sie alsdann « eins zu eins » an die Urproduzenten weiterreichte, handelsrechtlich als Aufwand und als Ertrag verbucht. Die Bruttodarstellung entspricht den Vorgaben des Buchführungsrechts. Insbesondere herrscht auch keine Durchlauf-Konstellation: In Bezug auf die Produktionskosten ist die Steuerpflichtige weder im Namen der Urproduzenten noch für deren Rechnung aufgetreten, zumal sie den vollen Vorsteuerabzug getätigt hat. Sie hätte damit die Weiterleitung der Produktionskosten versteuern und dabei den Normalsatz anwenden müssen. Die von der Steuerpflichtigen geübte Praxis, ihre Rechnungen bzw. Gutschriften einer mehrwertsteuerlichen « Nettobetrachtung » zu unterziehen, findet mithin keine mehrwertsteuerrechtliche Grundlage und widerspricht dem Handelsrecht. Die Weiterbelastungen an die Urproduzenten bilden keine geringfügige « proportionale » Korrekturposition; ein hinreichend unmittelbarer Zusammenhang zu den von den Urproduzenten bezogenen Holzlieferungen ist nicht gegeben. Die ESTV hat eingekaufte und weiterbelastete Fremdarbeiten von Fr. 5’304’357.- festgestellt, was im vorinstanzlichen Verfahren unbestritten geblieben ist. Damit hat die Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer auf diesem Betrag zu entrichten. Im Gegenzug ist sie berechtigt, die Vorsteuer in gleicher Höhe abzuziehen – was sie bereits getan hat (E. 3.5.).
9C_633/2022 (22.06.2023): Öffentliche Finanzen & Abgaberecht,
Abschlussgebühren der Gemeinde Rheinfelden/AG, Abgabeperiode 2016
Mit Erteilung der Baubewilligung für eine Überbauung verfügte der Gemeinderat Rheinfelden (AG) die provisorischen Wasser- und Kanalisationsanschlussgebühren. Die anschliessende definitive Festsetzung der Anschlussgebühren fiel erheblich höher aus, weshalb sich die Bauherrin dagegen wehrte. Mit Beschwerde vor Bundesgericht rügte die Beschwerdeführerin in erster Linie, dass das angefochtene Urteil das verfassungsmässige Kostendeckungsprinzip verletze.
Das Kostendeckungsprinzip besagt, dass der Gebührenertrag die gesamten Kosten des betreffenden Verwaltungszweigs nicht oder nur geringfügig übersteigen soll. Zum Gesamtaufwand sind nicht nur die laufenden Ausgaben des betreffenden Verwaltungszweigs, sondern auch angemessene Rückstellungen, Abschreibungen und Reserven hinzuzurechnen (E. 3.2.).
Das Bundesgericht setzte sich sodann mit den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Kostendeckungsprinzips auseinander und hielt fest, dass wenn die Bemessung der Abgabe im formellen Gesetz hinreichend bestimmt geregelt ist, brauche das Kostendeckungsprinzip zumindest von Verfassungs wegen nicht mehr geprüft zu werden; diesfalls kann sich nur noch die Frage stellen, ob das formelle Gesetz mit übergeordnetem oder gleichrangigem Recht vereinbar ist (E. 3.5.). Zusammenfassend hielt das Bundesgericht fest, dass weder die Bundesverfassung noch das übrige Bundesrecht die Beschwerdegegnerin zur Einhaltung des Kostendeckungsprinzips bezüglich der streitbetroffenen Abgaben verpflichten, zumal die Beschwerdegegnerin für die Erhebung und Bemessung unstreitig über eine hinreichend bestimmte formellgesetzliche Grundlage verfügt. Die Rüge der Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe das verfassungsmässige Kostendeckungsprinzip verletzt, erweist sich demnach von vornherein als unbegründet, ohne dass geprüft werden müsste, ob die erhobenen Abgaben das Kostendeckungsprinzip einhalten (E. 3.10.).
Die Beschwerde wurde abgewiesen.
6B_1445/2021 (14.06.2023): Strafrecht Landesverweisung, Kosten
Im vorliegenden Entscheid musste sich das Bundesgericht mit der Anwendbarkeit des Jugendstrafgesetztes bei Übergangstätern beschäftigen. Dies vor dem Hintergrund der kürzlich beschlossenen StPO-Revision (vgl. BBI 2022 1560 S.18). Demnach sollen Straftaten von Übergangstätern neu formell getrennt beurteilt und sanktioniert werden. Wird gegenüber einem Jugendlichen ein Strafverfahren wegen einer Straftat vor Vollendung des 18. Altersjahres eröffnet, so soll dieses (grundsätzlich) im Jugendstrafverfahren beurteilt und gemäss JStG sanktioniert werden. Begeht dieser Jugendliche während des hängigen Jugendstrafverfahrens, aber nachdem er das 18. Altersjahr vollendet hat, eine weitere Straftat, so soll diese Straftat neu in einem erwachsenenstrafrechtlichen Verfahren gesondert beurteilt und ausschliesslich gemäss StGB sanktioniert werden. Einzig im folgenden Fall soll keine Trennung stattfinden: Wurde gegen einen jungen Erwachsenen ein Strafverfahren wegen einer Straftat, die er nach Vollendung des 18. Altersjahres begangen hat, eröffnet und wird dann erst bekannt, dass er schon vor Vollendung des 18. Altersjahres delinquiert hat, so wird auch diese Straftat – wie im geltenden Recht – im erwachsenenstrafrechtlichen Verfahren beurteilt. In Bezug auf die Strafen und insbesondere die Massnahmen soll neu nur noch das StGB zur Anwendung kommen. Nach der Botschaft wäre die Anordnung einer jugendstrafrechtlichen Massnahme gegenüber einem jungen Erwachsenen systemfremd und ist deshalb nicht angezeigt. Auch daraus erhellt, dass der Gesetzgeber mit der (noch) geltenden Bestimmung von Art. 3 Abs. 2 JStG für massnahmebedürftige Übergangstäter die Wahl zwischen Schutzmassnahme gemäss Art. 12 ff. JStG und therapeutischer Massnahme gemäss Art. 59 ff. StGB vorsah und gleichzeitig die (obligatorische oder nicht obligatorische) Landesverweisung für nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Anlasstaten offensichtlich nicht ausschliessen wollte. Letztere werden nach dem Erwachsenenstrafrecht beurteilt, womit Art. 66a ff. StGB Anwendung findet. Entsprechend ist unerheblich, dass in Art. 1 Abs. 2 JStG die Bestimmungen über die Landesverweisung nicht aufgeführt sind. Am Ganzen ändert daran auch nichts, dass das Jugendstrafverfahren anwendbar bleiben soll, wenn dieses eingeleitet wurde, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat bekannt wurde (Sätze 4–5 von Art. 3 Abs. 2 JStG), zielte der Gesetzgeber mit dieser Lösung doch darauf ab, im Interesse der Verfahrensökonomie unnötige Prozessleerläufe zu verhindern. Schliesslich kann es nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sein, einen jungen Straftäter, der im Alter von über 18 Jahren eine Anlasstat begeht, hinsichtlich einer allfälligen Landesverweisung bevorzugt zu behandeln, nur bzw. gerade weil er zuvor als Jugendlicher bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und deshalb (gleichzeitig) eine vor und eine nach Vollendung seines 18. Altersjahres begangene Tat beurteilt werden (E. 2.4.2.5.).
Im Ergebnis verletzt die Vorinstanz Bundesrecht, wenn sie für die vom Beschwerdegegner nach Vollendung dessen 18. Altersjahres begangene qualifizierte einfache Körperverletzung eine nicht obligatorische Landesverweisung a priori ausschliesst. Die Vorinstanz wird zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen gemäss Art. 66a bis StGB erfüllt sind. Im Rahmen der Interessenabwägung wird sie auch die Rechtsprechung zur obligatorischen Landesverweisung heranzuziehen haben, wonach die unter das JStG fallenden – und somit nicht als Anlasstaten zählenden – strafbaren Handlungen bei der Interessenabwägung nach Art. 66a Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sind. Das Gericht darf die Rückfallgefahr auch unter Einschluss von nicht als Anlasstaten geltenden Straftaten beurteilen. Das Rückfallrisiko, das in einer wiederholten Delinquenz zum Ausdruck kommt, ist zentrales Element des öffentlichen Interesses im Sinn von Art. 66a Abs. 2 StGB (E. 2.5.).
10.07.2023 – 16.07.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Paul Stübi
8C_661/2022 (26.07.2023): Invalidenversicherung (Prozessvoraussetzung; Neuanmeldung, berufliche Massnahmen)
Im Jahr 2016 stellte A ein Gesuch um Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung. Dieses Gesuch wurde von der IV-Stelle abgewiesen. Im Jahr 2021 stellte A ein neues Gesuch, ohne eine relevante Sachverhaltsänderung glaubhaft gemacht zu haben. Auf dieses neue Gesuch wurde nicht eingetreten. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht St. Gallen insofern teilweise gut, als es die Verfügung der IV-Stelle aufhob und die Sache zur materiellen Prüfung des Gesuchs an die IV-Stelle zurückwies. Dagegen führte die IV-Stelle Beschwerde. Da es sich um einen Rückweisungsentscheid und damit um einen Zwischenentscheid handelt, ist die Beschwerde ans Bundesgericht nur ausnahmsweise zulässig. Vom Grundsatz der Nichtanhandnahme direkter Beschwerden gegen erwiesenermassen ungerechtfertigte Rückweisungsentscheide mangels Vorliegens der Eintretensvoraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG kann eine Ausnahme gemacht werden, wenn sich zeigt, dass ein Gericht regelmässig rechtswidriger Weise vorgeht (E. 3.4., 3.6.1.). Ein solcher Fall liegt hier laut Bundesgericht vor. Wie die IV-Stelle zu Recht geltend macht, ist gemäss jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung eine Neuanmeldung nach vorangegangener Ablehnung eines Leistungsgesuchs nur zu prüfen, wenn eine leistungsrelevante Änderung der tatsächlichen Verhältnisse glaubhaft gemacht worden ist (E. 3.6.2.). Sie benannte mehrere kantonale Gerichtsentscheide, in denen die Vorinstanz die Streitsache in gleicher Weise wie im hier angefochtenen Entscheid abweichend von der dargelegten Bundesgerichtspraxis beurteilte (E. 3.6.3.). Zusammenfassend verletzte die Vorinstanz Bundesrecht, indem sie erkannte, auf eine Neuanmeldung für Eingliederungsmassnahmen nach vorgängiger rechtskräftiger Abweisung des Leistungsgesuchs sei voraussetzungslos einzutreten. Die Beschwerde der IV-Stelle war demnach begründet (E.6.).
03.07.2023 – 09.07.2023
Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Zusammengefasst von Can Kirmizikaya
2C_523/2021 (25.04.2023): Staatshaftung; Schadenersatz und Genugtuung
Das Bundesgericht behandelte in diesem Urteil eine Nicht-Gewährung von Schadenersatz und Genugtuung im Rahmen eines Staatshaftungsverfahrens. Thematisiert wurde unter anderem, ob eine längere Wartezeit und Unterbringung in einer ungeeigneten Einrichtung während des stationären therapeutischen Massnahmenvollzugs gegen die Vorgaben der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des kantonalen Staatshaftungsrechts verstossen würden (E. 4.2.). Das Bundesgericht entschied, dass die Organisationshaft des Beschwerdeführers von rund 17 Monaten nicht zulässig war. Das Gericht stellte fest, dass eine Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt nur vorübergehend und bei angemessener Behandlung als therapeutisch adäquat gilt (E. 8.4.). Die Beschwerde wurde gutgeheissen und die Vorinstanz angewiesen, den Entschädigungsanspruch des Beschwerdeführers erneut zu prüfen.
9C_609/2022 (13.06.2023): Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2012 bis 2015.
Die steuerpflichtige AG (Beschwerdeführerin) bezweckt das Bereitstellen von Lehr-, Forschungs- und Dienstleistungsinfrastrukturen, insbesondere für die universitäre muskuloskelettale Medizin. Sie liess auf einer Baurechtsparzelle, welche im Eigentum des Kantons Zürich steht, ein Forschungszentrum bzw. Campusgelände errichten. Die Baukosten betrugen CHF 64 Mio., daran beteiligte sich der Kanton Zürich mit CHF 9 Mio. Streitig und zu prüfen war nun, ob es sich bei diesem Investitionsbeitrag um einen vorsteuerwirksamen öffentlich-rechtlichen Beitrag (Vorsteuerkürzung) oder eine vorsteuerneutrale Spende handelte. Dabei musste das Bundesgericht im Wesentlichen unterscheiden, ob eine blosse « Begünstigungsabsicht » mit dem Recht, grundsätzlich nach Gutdünken über die Mittel zu verfügen (in Form einer Spende), oder eine darüber hinausgehende Unterstützungsabsicht mit klarer Zwecksetzung (öffentlich-rechtlicher Beitrag) vorliege. Das Gericht kam zum Schluss, dass es sich beim Investitionsbeitrag des Kantons Zürich um einen öffentlich-rechtlichen Beitrag handelte, weil der Kanton Zürich damit das im öffentlichen Interesse liegende Ziel der Förderung der Forschung und Entwicklung sowie des Standorts Zürich bezweckte (E. 3.2.3.3.). Der ausgerichtete Beitrag stand mithin nicht zur freien Verfügung nach Gutdünken. Das Bundesgericht wies die Beschwerde in öffentlich-rechtlicher Angelegenheit ab.