Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Das Bundesgericht veröffentlicht unermüdlich wegweisende Urteile. Um dieser Flut an Rechtsprechung Herr zu werden, fassen wir – konkret Paul Stübi – wöchentlich die relevantesten Urteile kurz und knapp zusammen. Diese kurze Übersicht wird in Zukunft regelmässig veröffentlicht. Ziel ist es dabei nicht, sämtliche Punkte aller Urteile wiederzugeben. Vielmehr soll dem interessierten Leser die Möglichkeit eröffnet werden, sich aktuell und zeitsparend über die ihn interessierenden Urteile auf dem Laufenden zu halten. Der Fokus liegt dabei auf den deutschsprachigen Urteilen, wobei jedoch die französischsprachigen und italienischsprachigen Urteile zeitnah nachgereicht werden. Wir hoffen, damit einen kleinen Beitrag an die Schweizer Juristerei liefern zu können und freuen uns über sämtliche Rückmeldungen und Ergänzungen. In den nächsten zwei Tagen folgen die Urteile des Bundesgerichts der letzten zwei Wochen.

27.03.2022 – 03.04.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

1C_177/2021* (10.03.2022) Zulässigkeit einer Enteignung
Vorliegend ging es um die Beschwerde eines Grundeigentümers, dessen Grundstücke zur Erweiterung der Deponie Tüfentobel (betrieben durch die Stadt St. Gallen) enteignet wurden. Das Bundesgericht hielt fest, dass der Bedarf an Deponien gemäss den Vorgaben des Umweltschutzgesetzes ausgewiesen worden sei und damit ein öffentliches Interesse an der Enteignung bestehe (E. 3.). Weiter könne der Bund oder der Kanton das Enteignungsrecht auf Dritte übertragen. Eine solche Übertragung ermögliche es der Stadt St. Gallen ausserhalb ihres Gemeindegebietes solche Enteignungen vorzunehmen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass eine politische Gemeinde öffentliche Aufgaben ausserhalb ihres Gemeindegebiets vornehmen müsse (E. 4.).

2C_399/2021* 2C_427/2021* 2C_565/2021* (28.02.2022) Öffentliches Beschaffungswesen, Projekt Erneuerung Weissensteintunnel Umsetzung BehiG an den Bahnhöfen Oberdorf und Gänsbrunnen, SIMAP-Meldungsnummer 1154351, SIMAP Projekt-ID 197516
Das Bundesgericht entschied, dass bei der Anfechtung eines Zuschlags durch mehrere Anbieter die Beschwerdeinstanz sämtliche Beschwerden zeitlich koordiniert (E. 4.3.1.), unter Wahrung aller Verfahrensrechte aller an den verschiedenen Verfahren beteiligten Anbieter (E. 4.3.2.) und in derselben Besetzung zu beurteilen hat (E. 4.3.3.).

2C_380/2021* (23.02.2022) Grundstückgewinnsteuer des Kantons Zürich, Steuerperiode 2012
Vorliegend ging es um einen «Immobilien Asset Swap», bei dem der gesamte Immobilienpark einer Pensionskasse auf die Zürich Anlagestiftung übertragen wurde. Das Steueramt der Stadt Zürich wies den Aufschub der Grundstückgewinnsteuer ab. Das Verwaltungsgericht hob diesen Entscheid auf und schob die Grundstücksgewinnsteuer auf. Das Bundesgericht bestätigte diesen Entscheid. Insbesondere ist erwähnenswert, dass auf die vorliegende Konstellation der Steueraufschubtatbestand von Art. 80 Abs. 4 BVG («Aufteilung») anwendbar ist.

8C_256/2021* (09.03.2022) Invalidenversicherung (Invalidenrente; Invalideneinkommen)
Das Bundesgericht hält eine Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung zur Ermittlung des Invaliditätsgrades anhand der Tabellenlöhne der LSE nicht für angezeigt. Es liegen keine ernsthaften sachlichen Gründe für eine Änderung der Praxis vor.

1C_116/2022* (21.03.2022) Auslieferung an die Republik Armenien
Ein Auslieferungsentscheid des Bundesstrafgerichtes wird durch das Bundesgericht aufgehoben. Laut Bundesgericht ist die Gesundheitsversorgung in armenischen Gefängnissen zum jetzigen Zeitpunkt nicht hinreichend garantiert. Unter diesen Umständen kann es nicht genügen, wenn die armenischen Behörden zusichern, dass die medizinische Betreuung in den jeweiligen medizinischen Dienstabteilungen der Strafvollzugsanstalten, im Gefängniskrankenhaus oder gegebenenfalls in medizinischen Einrichtungen der Gesundheitsbehörden erfolge (E. 4.6.).

5A_545/2020* (07.02.2022) Eintragung im Personenstandsregister von im Ausland erfolgten Geburten (Leihmutterschaft)
Ein Ehepaar liess durch eine Leihmutter in Georgien Zwillinge gebären. Dabei kam die Samenspende vom Ehemann und die Eizelle von der Ehefrau. Biologisch bestand also keine Verwandtschaft zwischen den Zwillingen und der Leihmutter. In der Schweiz wollte das Ehepaar die Zwillinge als ihre Kinder im Personenstandsregister eintragen lassen. Laut Bundesgericht kommt in einem solchen Fall Schweizer Recht zur Anwendung, welches keine Leihmutterschaft erlaubt (insb. E. 6.4.). Die rechtliche Mutter ist also die georgische Leihmutter, da diese die Kinder «geboren hat». Der Ehemann kann die Kinder anerkennen (E. 7). Das Schweizer Recht kennt aber keine Anerkennung der Mutterschaft. Die Ehefrau muss die Zwillinge adoptieren, wenn sie deren rechtliche Mutter werden will (E. 8.5.).

8C_317/2021* (08.03.2022) Öffentliches Personalrecht (Beendigung des öffentlichen Dienstverhältnisses)
Einem Angestellten der SBB wurde innerhalb der Probezeit gekündigt. Dieser focht die Kündigung an. Streitig war, ob sich die Probezeit nach Ziff. 22 GAV im Krankheitsfall verlängert hatte oder bei der Aushändigung der Kündigung bereits abgelaufen war. Laut Bundesgericht verlängerte sich die Probezeit um die Krankheitstage. Dies, weil der GAV keine expliziten Regeln diesbezüglich enthielt und somit Art. 335b Abs. 3 OR subsidiär zur Anwendung gelangte (E. 5.2.3.2).

1C_117/2021 (1.03.2022) Öffentlichkeitsprinzip, Gesuch um Einsicht in archivierte Akten
Es ging um das Recht auf Einsichtnahme in im Bundesarchiv archivierte Akten. Diese unterliegen gewissen Sperrfristen. Für Personen der Zeitgeschichte greifen aber Ausnahmetatbestände. Das Bundesgericht greift also auf seine Rechtsprechung aus dem Persönlichkeitsrecht des ZGB zurück und entscheidet, dass es sich bei einem Asylanten, dessen Fall medial diskutiert wurde, um eine «relativ bekannte Persönlichkeit handelt» (nicht relative oder absolute Person der Zeitgeschichte), was in einer Interessensabwägung zwischen einer Einsichtnahme einerseits und dem Schutz der persönlichen Integrität andererseits mündet (Art. 13 und 18 VBGA).

21.03.2022 – 27.03.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

4A_486/2021* (9.03.2022): Aktienkaufvertrag; internationale Zuständigkeit, Gerichtsstandsvereinbarung, Art. 3 IPRG
Eine Gesellschaft forderte insbesondere den Restkaufpreis aus einem Aktienkaufvertrag von einer nach dem Recht der Arabischen Emirate organisierten Gesellschaft. Die Gesellschaft stützte sich dabei auf eine Gerichtsstandsvereinbarung. Diese Gerichtsstandsvereinbarung war jedoch laut Vorinstanz nicht von vertretungsberechtigten Personen unterzeichnet worden, weshalb die Vorinstanz ihre Zuständigkeit verneinte. Darauf brachte die klagende Gesellschaft vor, dass sich die Vorinstanz auch auf die Notzuständigkeit nach Art. 3 IPRG hätte stützten können (E. 5.2.2.3.). Dies wurde jedoch mit dem Argument verneint, dass eine Notzuständigkeit im Sinne von Art. 3 IPRG nicht dadurch begründet werden könne, dass die Vertragsparteien es versäumt hätten, eine gültige Gerichtsstandsvereinbarung abzuschliessen, wenn ihnen dies – wie in casu – an sich möglich gewesen wäre. Auch resultiere aus der Ungültigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung nicht ohne Weiteres, dass eine von Art. 3 IPRG erfasste Rechtsschutzkarenz bestehe, zumal die Klägerin vor der Vorinstanz Art. 3 IPRG nicht hinreichend dargelegt habe. Der Beschwerdeführer hätte Art. 3 IPRG bereits vor der Vorinstanz (eventualiter) vorbringen müssen (E. 5.2.2.3.).

8C_466/2021* (01.03.2022) Unfallversicherung (Leistungskürzung; Revision)
Vorliegend ging es um die Frage, ob das Verwaltungsgericht Bern Recht verletzte, indem es die Rente des Beschwerdeführers bei einem Invaliditätsgrad von 55% beliess und die Leistungskürzung von 20% sowie die Verweigerung einer Hilflosenentschädigung bestätigte. Betreffend Invaliditätsgrad klärte das Bundesgericht die Frage, ob das Merkmal «Alter» einen Abzug im Tabellenlohn rechtfertigen kann (E. 3.6.). Die Vorinstanz habe laut Bundesgericht nicht Bundesrecht verletzt, indem sie die Voraussetzungen für einen Abzug vom Tabellenlohn verneinte (E. 3.7.). Betreffend Leistungskürzung hielt das Bundesgericht fest, dass eine Kürzung kein Verbrechen oder Vergehen, sondern lediglich ein grobfahrlässiges Handeln (hier ein Motorradunfall) voraussetzt. Jedoch waren die hier relevanten Voraussetzungen einer Wiedererwägung nicht gegeben (E. 5.5.5.). Schliesslich verneinte das Bundesgericht den Anspruch auf Hilflosenentschädigung (E. 8.4.).

Bundesgerichtliche Rechtsprechung Nachträge

Zusammengefasst von Paul Stübi

9C_60/2021* (22.12.2021): AHV / IV / Ergänzungsleistungen / Wohnsitz
Strittig war, ob der Wechsel der KESB-Zuständigkeit auch einen Wechsel in der Zuständigkeit für die Festsetzung und Auszahlung von Ergänzungsleistungen bewirkt. Bei einem bevormundeten minderjährigen Kind führt die Verlegung des abgeleiteten Wohnsitzes in einen anderen Kanton nach Art. 25 Abs. 2 ZGB zu einem Wechsel der örtlich zuständigen ELG-Vollzugsbehörde.

8C_613/2021* (10.01.2022): UVG / Einspracheentscheid / Einsprache / Beschwerdeberechtigung
Die Praxis zur Beschwerdeberechtigung (formelle Beschwer) weicht bei den Sozialversicherungen von den allgemeinen Grundsätzen ab, wonach die Ausschlusswirkung eintritt, falls die Ansprüche nicht form- und fristgerecht geltend gemacht werden, weil die korrekte Anwendung des Sozialversicherungsrechts des Bundes Priorität hat.

2C_98/2020* (22.12.2021): Beschwerde über Gesetz über Ladenöffnungszeiten im Kanton Tessin
Das Bundesgericht heisst zwei Beschwerden gegen das neue Gesetz des Kantons Tessin über die Ladenöffnungszeiten teilweise gut. Als verfassungswidrig erweist sich die Bestimmung von Artikel 23 Absatz 1 des Gesetzes, mit dem das Inkrafttreten vom Abschluss eines allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrages im Verkaufssektor abhängig gemacht wurde.

6B_1079/2021* (22.11.2021): BGG / Beschwerdefrist / Wiederherstellung
Das Bundesgericht verweigerte in einer Strafsache die Wiederherstellung einer Frist, nachdem ein Anwalt eine Beschwerdefrist verpasst hatte. Die Frist wurde nicht unverschuldet verpasst. Das Recht auf eine wirksame Verteidigung und ein faires Verfahren wurde gewahrt, denn der Beschwerdeführer hat zwei Instanzen mit voller Kognition durchlaufen, bevor er an das mit beschränkter Kognition urteilende Bundesgericht gelangte.

14.03.2022 – 20.03.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

1B_432/2021* (28.02.2022): Entsiegelung
Vorliegend ging es um die Entsiegelung von IT-Geräten. Angefochten war dabei ein Entsiegelungsentscheid des Bundesstrafgerichtes. Das Bundesgericht hält dabei fest, dass das Bundesstrafgericht bisher eine eigene Praxis verfolgte (E. 2.4.). Diese Praxis erklärt das Bundesgericht als rechtswidrig (E. 2.5.). Das Bundesgericht weist insbesondere darauf hin, dass gewährleistet bleiben muss, dass die Untersuchungsbehörde in keiner Weise in die Entsperrung und Spiegelung als Realakte einbezogen wird und bis zum Entsiegelungsentscheid keine Möglichkeit des Zugangs zu den auf den sichergestellten Geräten liegenden Dateien erhält und auch über keine Weisungsbefugnisse gegenüber der beauftragten Organisation oder Person verfügt (E. 2.6.).
Der Verfahrensfehler wog im vorliegenden Fall derart schwer, dass die Daten auf den elektronischen Geräten nicht mehr verwertet werden konnten (E. 4.2.).

07.03.2022 – 13.03.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

6B_1404/2020* (17.01.2022): Raub, versuchte schwere Körperverletzung; Anklageprinzip
Das Bundesgericht äusserte sich zur rechtlichen Qualifikation eines Raubes (E. 1.2., 1.5. f.). Dabei wurde vorgängig eine Verletzung des Anklageprinzips vorgebracht: Die subjektiven Tatbestandselemente seien in der Anklageschrift ungenügend umschrieben gewesen. Nach Bundesgericht genügt aber hinsichtlich der Vorsatzelemente grundsätzlich der Hinweis auf den gesetzlichen Straftatbestand im Anschluss an die Darstellung des Sachverhalts als zureichende Umschreibung der subjektiven Merkmale, wenn der betreffende Tatbestand nur vorsätzlich begangen werden kann. Die Schilderung des objektiven Tatgeschehens reicht aus, wenn sich daraus die Umstände ergeben, aus denen auf einen vorhandenen Vorsatz geschlossen werden kann (E. 1.4.3.). Im zweiten Teil des Urteils thematisierte das Bundesgericht die versuchte schwere Körperverletzung, wobei abermals eine Verletzung des Anklageprinzips zur Debatte stand (E. 2.). In der Anklageschrift wurde dem Angeklagten vorgeworfen, er habe in Kauf genommen, sein Opfer «ernsthaft zu verletzen». Dies lies das Bundesgericht nicht gelten (E. 2.5.). «Ernsthaft» sei nicht mit einer schweren Körperverletzung im Sinne von Art. 122 StGB gleichzusetzen. Demnach war das Anklageprinzip in diesem Punkt verletzt (E. 2.5.2., 2.5.5.). Abschliessend äusserte sich das Bundesgericht zu den Folgen dieser Verletzung und ob die Sache zwecks Anklageerweiterung zurückgewiesen werden kann. Dies sei möglich, da ein Beschwerdegegner die Korrektur der Anklage sowohl erst- als auch zweitinstanzlich bereits verlangt habe und sein Antrag bisher nicht korrekt behandelt worden sei (E. 2.6., insb. 2.6.8.).

5A_1000/2020* (01.02.2022): (Schweizweiter) Arrest
Strittig war insbesondere die rechtshilfeweise Durchsetzung eines Arrestes durch ein ausserkantonales Lead-Betreibungsamt, angeordnet durch das Zürcher Steueramt.

Gemäss Art. 271 Abs. 1 SchKG kann der Gläubiger für eine Forderung, soweit diese nicht durch ein Pfand gedeckt ist, Vermögensstücke des Schuldners, die sich in der Schweiz befinden, mit Arrest belegen lassen. Für den Vollzug des Arrestbefehls wird in Art. 275 SchKG auf die sinngemässe Geltung von Art. 91-109 SchKG über die Pfändung verwiesen. Nicht erwähnt wird hingegen der Art. 89 SchKG, welcher das Betreibungsamt anweist, die Pfändung unverzüglich zu vollziehen oder durch das Betreibungsamt am Ort, wo sich das zu pfändende Vermögensstück befindet, vollziehen zu lassen. Damit fehlt eine Bestimmung, welche bei Bedarf den rechtshilfeweisen Arrestvollzug entsprechend der Pfändungsregelung klar festlegt (E. 3.2.). Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass ein einheitlicher Vollstreckungsraum mit einem schweizweiten Arrest einen durch das Betreibungsamt in sinngemässer Anwendung von Art. 89 SchKG koordinierten Arrestvollzug einschliesst (E. 3.4.4.).

28.02.2022 – 06.03.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

4A_169/2021* (18.01.2022): Arbeitsvertrag; Bonus
Vorliegend ging es um die Qualifikation von «variablem Lohn», welcher im Arbeitsvertrag vereinbart wurde. Da der Begriff des Bonus im Obligationenrecht nicht definiert wird, ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein vereinbarter Bonus als Gratifikation im Sinne von Art. 322d OR oder als Teil des Lohns im Sinne von Art. 322 OR zu qualifizieren ist. Nach Rechtsprechung des Bundesgerichts sind drei Situationen zu unterscheiden; ein Bonus kann sein: (1) variabler Lohn, (2) Gratifikation, auf welche der Arbeitnehmer Anspruch hat und (3) Gratifikation, auf die er keinen Anspruch hat (E. 3.1.). Das Bundesgericht äusserte sich zu den unterschiedlichen Rechtsfolgen der Qualifikationen (E. 3.1.1. ff.) und bestätigte dann über die Vertragsauslegung die Auffassung der Vorinstanz, dass es sich bei dem vereinbarten «variablen Lohn» eigentlich um eine unechte Gratifikation (2) handelte (E. 3.3.2., 3.3.4., 3.4.). Folglich war grundsätzlich ein Bonus geschuldet (E. 3.4., 3.1.2.1.). Weiter ist interessant, dass das Bundesgericht die Abschreibung zufolge Gegenstandslosigkeit gemäss Art. 242 ZPO als Endentscheid im Sinn von Art. 308 Abs. 1 lit. a ZPO qualifiziert, welcher der Berufung unterliegt, sofern der Streitwert gemäss Art. 308 Abs. 2 ZPO erreicht ist. Ist der Streitwert nicht erreicht, unterliegt er als Endentscheid der Beschwerde gemäss Art. 319 lit. a ZPO (E. 6.5.).

9C_390/2021* (08.02.2022): Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft (Covid-19)
Die Beschwerdeführerin meldete als selbständig erwerbende Physiotherapeutin Erwerbsausfallentschädigung an. Das Gesuch wurde abgewiesen. Vorliegend stellte sich in intertemporaler Hinsicht die Frage, welche Verordnung anwendbar sei. Dazu erläutert das Bundesgericht die geltenden Grundsätze, insbesondere in Bezug auf Dauersachverhalte (E. 3.2.1.) und kommt zum Schluss, dass die Vorinstanz die richtige Verordnung angewandt hat (E. 3.2.2.). Nachfolgend war der Begriff «Aktuelle Steuerveranlagung» nach Art. 2 Abs. 3bis in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 zweiter Satz Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall auszulegen. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass sich der Begriff «aktuelle Steuerveranlagung» auf das Jahr 2019 bezieht (E. 5.3.).

21.02.2022 – 27.02.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

6B_1397/2019* (12.01.2019): Mehrfacher qualifizierter Raub (besondere Gefährlichkeit), vollzugsbegleitende ambulante Massnahme
A überfiel ein älteres Ehepaar und zu einem späteren Zeitpunkt ein Goldschmiede-Atelier. Dabei fesselte, knebelte und bedrohte er seine Opfer in beiden Fällen. Streitig war, ob es sich bei den Vorfällen um je einen einfachen oder qualifizierten Raub handelte. Das Bundesgericht bestätigte für beide Fälle einen qualifizierten Raub im Sinne von Art. 140 Ziff. 3 Abs. 3 StGB (E. 2.). Eine willkürliche Strafzumessung liess das Bundesgericht nicht gelten (E. 3.). Das Kantonsgericht habe aber das Verschlechterungsverbot verletzt, indem es eine ambulante Massnahme angeordnet habe, obwohl das Kriminalgericht auf die Anordnung einer solchen verzichtet hatte. Damit verletzte das Kantonsgericht Art. 391 Abs. 2 StPO und die angeordnete ambulante Massnahme wurde aufgehoben (E. 4., 5.).

4A_442/2021* (08.02.2022): Verteilung Prozesskosten
Die B AG wurde durch die A AG betrieben. Infolgedessen erhob die B AG Rechtsvorschlag und reichte Feststellungsklage ein, in der sie beantragte, es sei festzustellen, dass die geforderte Summe nicht geschuldet sei. Auf das Feststellungsbegehren wurde nicht eingetreten, da es an einem Rechtsschutzinteresse fehlte. Von den Gerichtskosten wurde der B AG 4/5 und der A AG 1/5 auferlegt. Die Gerichtskosten zulasten der A AG wurden damit begründet, dass diese zwar mit Antrag auf Nichteintreten obsiegt habe, sie jedoch mit mehreren prozessualen Anträgen unterlegen sei (E. 2.). Dagegen erhob die A AG Beschwerde vor Bundesgericht.

Das Bundesgericht gab der A AG recht, bejahte eine Verletzung von Art. 106 ZPO und hielt fest, dass für die Verteilung der Prozesskosten das Gesamtergebnis des Prozesses in der Hauptsache massgebend sei, während es nicht darauf ankomme, wie über einzelne Angriffs- oder Verteidigungsmittel entschieden wurde (E. 3.2.). Folglich hat die B AG die gesamten Gerichtskosten zu tragen. Eine Beschwerde betreffend Höhe der Parteientschädigung wurde hingegen abgewiesen. Dies mit Verweis auf den Ermessensspielraum der Vorinstanz (E. 4.2.).

14.02.2022 – 20.02.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

5A_294/2021* (07.12.2021): Eheschutz, Kompetenzaufteilung Eheschutz-/ Scheidungsgericht
Das Bundesgericht entschied, dass das Eheschutzgericht Tatsachen, die sich erst nach Einleitung des Scheidungsverfahrens ereignet haben, aber form- und fristgerecht vor dem Eheschutzgericht vorgebracht wurden, vom Eheschutzgericht berücksichtigt werden müssen (E. 4.5.).

4A_394/2021* (11.01.2022): Krankentaggeld, Art. 40 VVG
Grundsätzlich trägt der Versicherer die Beweislast für Tatsachen, die eine betrügerische Begründung des Versicherungsanspruches belegen sollen (E.3.3.). Betreffend das Beweismass hielt das Bundesgericht fest, dass das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit eine Beweisnot voraussetzt. Hinsichtlich der subjektiven Täuschungsabsicht ist eine solche Not gegeben (also überwiegende Wahrscheinlichkeit). Beim Beweis der objektiven Voraussetzung der Darstellung von wahrheitswidrigen Fakten besteht demgegenüber keine generelle Beweisnot (also striktes Beweismass) (E. 3.4.3.).

5A_75/2020* (12.01.2022): Abänderung des Kindesunterhalts, Passivlegitimation
In seiner bisherigen Rechtsprechung ging das Bundesgericht davon aus, dass das Gemeinwesen, welches Unterhaltsbeiträge bevorschusst, in einem Abänderungsprozess als passivlegitimierte Partei einbezogen werden muss (vgl. BGE 143 III 177). Diese Praxis ändert das Bundesgericht nun. In Zukunft gilt, dass bei einer Abänderungsklage unabhängig davon, ob und ab wann die Unterhaltsbeiträge vom Gemeinwesen bevorschusst werden, immer nur der Unterhaltsschuldner und das Kind Prozessparteien sind (E. 6.7.).

6B_1320/2020* (12.01.2022): Raub usw.; Umfang der Berufung
Wenn in der Berufungserklärung beantragt wird, sämtliche Schuldsprüche seien aufzuheben, gleichzeitig aber in der Erklärung konkretisierend auf einzelne Schuldsprüche eingeht, gelten die restlichen Punkte als nicht angefochten (E. 2.5.). Weiter äussert sich das Bundesgericht zum Teilnahmerecht bei Einvernahmen. Der Beschwerdeführer hätte spätestens im Berufungsverfahren ausdrücklich eine Wiederholung der streitigen Befragungen verlangen müssen. Es geht von einem Verzicht aus (E. 4.2.3., 4.4.2.). Danach ging es um die Verwertbarkeit eines von der Polizei erstellten forensischen Gutachtens. Der Beschwerdeführer brachte eine Gehörsverletzung vor. Das Bundesgericht argumentierte jedoch, dass eine allfällige Gehörsverletzung dadurch geheilt worden sei, indem sich der Angeklagte nach Akteneinsicht nicht zum Gutachten äusserte und somit auf seinen Gehörsanspruch verzichtet habe (E. 5.5.2.). Zuletzt äussert sich das Bundesgericht zum verletzten Beschleunigungsverbot (Anklageerhebung 2015), weist die Beschwerde aber ab, weil sie nicht genügend begründet sei (E. 9.).

06.02.2022 – 13.02.2022

Bundesgerichtliche Rechtsprechung

Zusammengefasst von Paul Stübi

8C_432/2021* (20.01.2022): Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosenentschädigung)
A wurde als «echter Grenzgänger» eine Arbeitslosenentschädigung verweigert. Fraglich war, ob A die Anspruchsvoraussetzungen des «Wohnens in der Schweiz» nach Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG erfüllte. Für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung des Wohnens nach Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG genügt nach Bundesgericht ein tatsächlicher oder „gewöhnlicher“ Aufenthalt in der Schweiz mit der Absicht, diesen Aufenthalt während einer gewissen Zeit aufrechtzuerhalten und hier in dieser Zeit auch den Schwerpunkt der Lebensbeziehungen zu haben (E. 4.3.). Weiter äussert sich das Bundesgericht zu der Unterscheidung von echten und unechten Grenzgängern (E.  5.3.).

4A_275/2021* und 4A_283/2021* (11.01.2022): Verrechnung von Kosten für Ausgleichsenergie, Zuständigkeit
Die A AG und die B AG sind im Energiesektor tätig. Die Swissgrid AG hat als nationale Netzgesellschaft Verträge mit der A AG und der B AG.

Am 22. August 2018 ergriff die Swissgrid AG aufgrund einer kritischen Situation im Stromnetz verschiedene Massnahmen. Diese Massnahmen führten zu einer Unterdeckung. Die Swissgrid AG stellte der A AG daraufhin die Kosten für die Ausgleichsenergie in Höhe von EUR 1’330’389.02 in Rechnung (welche diese an die B AG weiterverrechnete). Vorliegend ging es um die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts des Kantons Aargau als Vorinstanz.

Vorab war zu prüfen, ob sich aus Art. 5 Abs. 5 StromVV (oder Art. 30 Abs. 2 StromVG) ein sachlicher Gerichtsstand ableiten lässt. Das Bundesgericht verneinte dies. Art. 5 Abs. 5 StromVV verstösst laut Bundesgericht gegen Art. 164 und Art. 182 Abs. 1 BV (E. 3.2.3.). Danach war zu entscheiden, ob die Betriebsvereinbarung zwischen der B AG und der Swissgrid AG privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur sei. Es handelte sich laut Bundesgericht um eine öffentlich-rechtliche Vereinbarung. Folglich ging es nicht um eine streitige Zivilsache nach Art. 1 lit. a ZPO. Damit wäre die Vorinstanz als Zivilgericht sachlich nicht zuständig gewesen (E. 4.3., E. 5.2.4.).

4A_449/2021* (27.01.2022): Zuständigkeit, Erfüllungsort nach Art. 5 Nr. 1 LugÜ
Es ging um einen Streit zwischen einer Schweizer AG und einer Gesellschaft in den Niederlanden. Die niederländische Gesellschaft forderte einen Betrag aus Vertrag in der Schweiz. Es stellte sich die Frage des örtlichen Gerichtsstandes nach Art. 5 Nr. 1 LugÜ. Anknüpfungspunkt ist dabei der Lieferort. Dieser bestimmt sich nach dem Vertrag, subsidiär nach dem tatsächlichen Übergabeort oder ist subsubsidiär «auf andere Weise» zu ermitteln (E. 4.2.). Dieses Prinzip wendete das Bundesgericht dann auf den vorliegenden Fall an (E. 4.3.). Dabei befand sich der Erfüllungsort am Abholungsort der Kaufsache in der Schweiz, womit ein Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 1 LugÜ begründet war.